Vom Kampfplatz für den Frieden bis zur friedlichen Revolution

Eine fotografische Spurensicherung von JÜRGEN NAGEL

-

Über zwei Jahrzehnte hat Jürgen Nagel im "Selbstauftrag" überall in der DDR Losungen und Parolen fotografiert. Er selbst nannte seine Arbeit "Spurensicherung".

Auch elf Jahre nach dem Ende der DDR ist diese Sammlung ein sehr spezieller Geschichtsfundus, der beim heutigen Betrachter Belustigung und Heiterkeit aber auch kopfschüttelndes Erstaunen und Betroffenheit auslösen kann.

Der Bogen dieser Losungen spannt sich von "Wir lernen für den Frieden über "Frieden schützen - Sozialismus stärken" bis "Frieden ist Recht und billig".

Nicht mehr zu sehen ist das, was den Friedensparolen ein Ende bereitete: die friedliche Revolution. Auf keinem Transparent je zu lesen sind diese beiden Worte längst als Synonym für die Ereignisse im Herbst 89 in die Geschichtsbücher eingegangen.

In einem umfangreichen Katalog zur Ausstellung berichten Zeitzeugen aus Ost und West über Erfahrungen mit dem Friedensanspruch der DDR, kommentieren aber auch den Missbrauch dieses Begriffes im "real existierenden Sozialismus" und ermöglichen dem heutigen Betrachter den Blick hinter die Kulissen der politischen Bühne von damals.

Pressestimmen

"Jürgen Nagel hat all die traurig hilflosen Belege einer letztlich vergeblichen propagandistischen Großschlacht fotografiert und dabei die Komik gleich mit inszeniert. "Straße des Friedens" lesen wir an einem zugemauerten und vergitterten Fenster, oder "Dank Euch" auf einer einsamen nackten Litfaßsäule eines unendlich trostlosen Bahnhofsvorplatzes. Man sollte sich diese Fotos unbedingt ansehen, denn vergessen haben wir schon viel zu oft."

Märkische Allgemeine Zeitung


"In den achtziger Jahren fotografierte Nagel die Losungen der Partei überall im Land und ärgerte sich, nicht schon in den sechziger Jahren damit begonnen zu haben. So etwas hätte jeder tun können, auch mit dem billigsten Fotoapparat. Aber wer schon nahm es noch wahr? Und wer hätte geglaubt, dass solche Fotos mal das schier unglaubliche Abbild einer untergegangenen Welt sein würden?"

Frankfurter Allgemeine Zeitung


"Die 69 Bilder aus dem Fundus von Nagel, die in der Ausstellung zu sehen sind, zeigen eine eigene Wahrheit. Nie stehen die Parolen wie "Frieden ist recht und billig" allein. Das Umfeld, in dem sie ihre Botschaft verbreiteten, war das, was Nagel interessierte."

Potsdamer Neueste Nachrichten


"Nagels Arbeiten taugen als Erinnerungswecker. Selbst wenn man die hohlen Losungen noch im Kopf herumträgt, wird aufgefrischt, wie sie tatsächlich aussahen."

Berliner Zeitung

War es so - oder doch auch ganz anders? 

Fotografien sagen: Ja, genau so war es. Das Gedächtnis erhebt Einspruch, will sich anders, oft freundlicher erinnern. Die Aufhebung des scheinbaren Widerspruchs: Fotografien sind Dokumente, die einen Ausschnitt der Wirklichkeit festhalten, wo im Bewusstsein die Gesamtheit des Erlebens präsent ist.

Jürgen Nagel hat dokumentiert. Seine Fotografien relativieren die fliehende Erinnerung und zwingen den Betrachter zu einem genauen Rückblick. Seine Abbildungen verweigern sich schmerzhaft und konsequent jeder Ostalgie.

Über zwei Jahrzehnte fotografierte er im Selbstauftrag Losungen und Parolen seines Heimatlandes DDR und nannte die stetig wachsende Sammlung - und das zukünftige Verschwinden dieser Motive vorausschauend - Spurensicherung. In seinem umfangreichen Archiv finden sich chronologisch geordnet und genau beschriftet hunderte Fotografien, die die Phrasen und Worthülsen eines Staates und der regierenden Partei festgehalten haben.

Königsstein, 1983

Königsstein, 1983

So eindeutig die Bilder scheinen, so unwiderlegbar sie in ihrer Fülle wirken - sie lösen doch je nach Herkunft und Alter des Betrachters unterschiedliche Reaktionen aus. Belustigung und Heiterkeit, aber auch kopfschüttelndes Erstaunen und Betroffenheit sind die Folge.

Unberührt lassen sie in keinem Fall. Wer in der DDR aufgewachsen ist, sie durchlebt hat, wird leicht von einer postsozialistischen Resignation befallen.

Da sind sie alle wieder, die Parolen und Losungen, die Aufforderungen und Verpflichtungen, die Thesen und Bekenntnisse. Welcher Aufwand - und wofür?

So allgegenwärtig sie waren, so wenig wurden sie im Alltag wahrgenommen. Jürgen Nagel, einem mit einem Fotoapparat bewaffnetem Jäger gleich, ging auf die Pirsch und fand mit geschärftem Spürsinn überall seine Beute: Im Alltag, auf Reisen und im Urlaub.

Da gibt es die riesigen, die weithin sichtbaren Transparente, die der Autofahrer mühelos entziffern konnte - wenn er denn wollte. Oder die flächendeckenden Losungen, die den Verfall des Hauses, das sie bedeckten, für einige Wochen unsichtbar machten. Jürgen Nagel entdeckte aber auch die verborgenen und vergessenen Botschaften in Ecken, Parks, an Landstraßen und in freier Natur - hilflos in ihrer Einsamkeit. Andernorts scheint die Gigantomanie der Parolen den Menschen, den sie doch erreichen wollten, fast zu erschlagen.
 

Frieden als Faden

Elf Jahre nach dem Ende der DDR ist diese Sammlung ein sehr besonderer Erinnerungsfundus, voll von scheinbar wahllos vielen Motiven, da sich Nagel keine thematische Beschränkung auferlegt hatte. Dennoch fällt auf, dass sich ein Thema wie ein unsichtbarer Faden durch die Sammlung zieht: Frieden. Frieden als Wort und Anspruch, als Ausdruck von Sehnsucht, integriert in die Arbeitswelt, benutzt von Schule, Sport und Kunst ebenso wie durch die Volksarmee martialisch okkupiert.

Der Bogen dieser Losungen spannt sich vom "Kampfplatz für den Frieden" über "Friedenslieder" und "Wir lernen für den Frieden" bis "Frieden schützen - Sozialismus stärken".

Nicht mehr zu sehen ist das, was diesen Friedensparolen ein Ende bereitete: die "friedliche Revolution". Auf keinem Transparent je zu lesen, sind diese beiden Worte längst als Synonym für die Ereignisse im Herbst `89 in die Geschichtsbücher eingegangen. Noch heute herrscht Staunen und Verblüffung über das relativ friedliche Ende des selbst ernannten "Friedensstaates". Eine bessere "Losung" hätte sich die DDR für ihre Verabschiedung von der Weltbühne nicht auf die Spruchbänder schreiben können...

Mit der Konzentration der Ausstellung auf den plakatierten Frieden des letzten Jahrzehnts in der DDR läßt sich in den sprachlichen Veränderungen der Parolen auch ein Wechsel des politischen Klimas erkennen. Was war das für ein Land, in dem die zutiefst menschliche Sehnsucht nach Frieden zur Ideologie erhoben wurde? „Friedliche Koexistenz" und „Friede durch Anerkennung" - das bedeutete für die DDR auch die Möglichkeit, die Wünsche ihrer Bürger nach etwas Wohlstand und Luxus zu erfüllen. Die von Nagel fotografierten Schaufenster, je nach Valuta-Lage mehr oder weniger gut gefüllt, zeigen die konkrete Kehrseite der abstrakten Friedensforderung.

Frieden ist nur ein Wort - so muss fast unweigerlich denken, wer die propagandistische Verwendung des Begriffs auf den Fotos von Jürgen Nagel sieht. Ein Wort, das zu kostbar ist, um durch Formelhaftigkeit und Propaganda entwertet zu werden.

Den Frieden zu sichern oder herzustellen - das ist mit Parolen nicht zu erreichen. Der aktuelle Blick auf den Balkan beweist die Schwierigkeit aller Friedensbemühungen. Die fotografisch festgehaltenen Friedenslosungen zeigen letztlich aber auch, wie tief der Wunsch nach Frieden im Menschen angelegt ist. Noch im Missbrauch wird erkennbar, wie allgegenwärtig das Bedürfnis nach Frieden ist.

Darf, kann und soll man diese Fotografien interpretieren?
Nein, nicht Interpretation ist gefragt, sondern die Ergänzung um historische Tatsachen, die genaue Erinnerung an politische Konstellationen und sich daraus ableitender Handlungen.

In den folgenden Texten kommentieren Zeitzeugen ihre Beobachtungen und Erfahrungen mit dem Friedensanspruch der DDR, untersuchen aber auch den Missbrauch dieses Begriffes im "real existierenden Sozialismus" und ermöglichen damit dem heutigen Betrachter den Blick hinter die Kulissen der politischen Bühne von damals.


Jürgen Nagel: Die Riesen meiner Tage

Friedrich Schorlemmer: Dein Feind braucht Frieden

Erhard Crome: Bilder von gestern

Harald Bretschneider: Frieden

Karl-Heinz Baum: Innerer Friede - von außen gesehen

Joachim Garstecki: Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen

Prof. Dr. Wilfried Rott: Wenig "FRIEDE" im Transit

Andreas Ludwig: Parolen und Losungen konserviert in der "Alltagskultur der DDR"

Jürgen Rennert: Mein Land ist mir zerfallen


Martina Schellhorn
Brandenburgische Landeszentrale
für politische Bildung

Schlagworte

Bewertung

Neuen Kommentar hinzufügen

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.