Jürgen Nagel

Die Riesen meiner Tage

Sie konnten nicht groß und nicht rot genug sein, die Versalien, die wir uns über die Köpfe hängen ließen - doch wehe, du hast die Kamera gezückt! Da waren sie schnell und dienstgeil zur Stelle, die betont unauffälligen Berufsfußgänger. Und so manch kleiner Pförtner rief nach der Volkspolizei.

Sie hatten ja recht mit ihrem Mißtrauen, die bestellten und die selbsternannten kleinen Aufpasser. Denn je größer die Losungen, desto weniger wurden sie gelesen. Also machte der sich verdächtig, der die wortgewaltigen Dreckecken fotografierte - “der führt was im Schilde!“

Und daran ließ ich kaum je einen Zweifel - erst heute aber kann ich es zeigen. Man wollte die Losungen - die Fotografien davon wollte man nicht. Dieses Land hatte stets ein schlechtes Gewissen.

Vielleicht hat all das gar nicht existiert, vielleicht haben wir das alles nur geträumt - so hätten es viele gern. Eines aber vermag Fotografie: Sie läßt nicht zu, dass Spuren vollends verwischt werden.

Nicht mehr und nicht weniger führte ich im Schilde, konstant, landesweit und über Jahre. Und also war Euer Misstrauen berechtigt.

Das alles erst in Farbe..., wird heute mancher sagen. Nein, keine Farbfotos. Dieses monolithische Rot war immer von gleichem Grau. Also schwarz auf weiß, grau in grau. Da sehen wir die wirkliche Farbe deutlicher, das Eigentliche des Zustands der DDR. 

Einiges in diesen Fotografien erinnert an Friedhof - war dieses Land schon immer tot? Auf mich jedenfalls wirkten diese Fotos schon historisch, wenn das Bild im Entwickler gerade erst entstand. Die Fotografie ist ein Spiegel, der uns erinnert.

Diese Unmengen von Aufstellern, Transparenten, Sicht- und Winkelementen, Plakaten (mich würde interessieren, wieviel Zigtausend es waren) - all diese Riesen meiner Tage mußten doch von Menschen geschaffen worden sein.

Wieviel Millionen Arbeitsstunden, wieviel tausend Tonnen Holz und Metall, wieviel Quadratkilometer Fahnenstoff, Karton und Papier, wieviel Tonnen Farbe? Wieviel Pinsel wurden verbraucht und wieviel Menschen? Wieviel fleißige Hände waren am Werk? Wofür? Was ging vor in den Köpfen?

“Wir mußten das ja machen!“ Sagen heute die Macher. Wenn sie etwas sagen. Mußten sie wirklich? Alles nur Druck von oben? So einfach? Und heute? Die Plätze ideologisch-monochromer Wortmonster sind von knallbunter high-life-Werbung besetzt.

Sage mir, welche Parolen und Symbolen von unseren Wänden in die Wirklichkeit schreien - und ich sage dir, wer wir sind...

Jürgen Nagel
Berlin 1991

Fotograf und Autor

1942 In Berlin geboren, Lehre als Fotochemiefacharbeiter

1961 Fachschule für Optik und Fototechnik in Berlin (West), durch Mauerbau abgebrochen.

1961-1966 Ausbildung und Arbeit als Fotograf

Seit 1967 Freiberufliche Tätigkeit für Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, Messen und Ausstellungen

1968-1970 Fotografenmeister bei der Handwerkskammer Berlin

1972-1976 Fernstudium/Diplom an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig

1977-1990 Mitglied im Verband Bildender Künstler (VBK-DDR)

1983 Gastdozent der Spezialschule Fotografie an der Bezirkskulturakademie Schwerin

1987-1989 Leiter und Dozent der Spezialschule Fotografie an der Bezirkskulturakademie Berlin, Leiter eines Amateur-Fotozirkels

1987-1992 Mitglied der AG Stadtbilder/Kunst statt Werbung - Kunst auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz

1989 Teilnahme an Protestresolutionen des VBK und an Aktionen des "Neues Forum", freie Mitarbeit an der Wochenzeitschrift "die andere"

1990-1997 Arbeitsstipendium des Kunstfonds Bonn

1994-1997 Dozent an der Volkshochschule Berlin-Friedrichshain, zeitweise arbeitslos

Seit 1992 Mitglied im Berufsverband Bildender Künstler Berlins (BBK) und in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK)

1997 Arbeitsstipendium des Landes Schleswig-Holstein mit Aufenthalt im Künstlerhaus Kloster Cismar

1999 Umzug nach Altlandsberg und Gründung eines Fotoclubs.


Bisher 19 Personalausstellungen und div. Ausstellungsbeteiligungen.
 

Publikationen:

"Parole Zukunft"
(BasisDruck, Berlin 1992),

"Historische Friedhöfe & Grabmäler in Berlin
(Stattbuch, Berlin 1994)

"Zum Beispiel Cismar"
(Selbstverlag, Berlin 1999)

und Veröffentlichungen in zahlreichen Büchern, Zeitschriften und Katalogen.
 

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