Ziemlich beste Freunde

Wie Deutsche und Polen zueinander finden

Von bröckelnder Partnerschaft zwischen Deutschland und Polen ist heute häufig die Rede. Für Krzysztof Wojciechowski, der seit 1991 in Frankfurt (Oder) arbeitet, sind jedoch die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen eine verlässliche Basis für die Zukunft.

Illustration: Anne Baier, ByeByeSea.com
© Anne Baier, ByeByeSea.com

»Weißt Du, Kristof, nach Polen gehe ich nie …«, hörte ich die Kollegin vom Schreibtisch gegenüber sagen, als wir uns näher kennenlernten und sie zu mir Vertrauen gewann. Wir schrieben das Jahr 1991 und eine kleine Gruppe, darunter auch ich, arbeitete im Gründungsbüro im Rathaus in Frankfurt (Oder), deren Ziel der Wiederaufbau der Universität Viadrina war. Es waren turbulente Zeiten. Nach drei Monaten erhielt ich das erste Gehalt. Nach dem vierten Monat stellte sich heraus, dass in meinen Unterlagen die Arbeitsgenehmigung fehlte. Ohne sie war es theoretisch gar nicht erlaubt in Deutschland einzureisen. Aber es herrschte damals ein starker politischer Wille. Enthusiasmus, die Wiedervereinigung Deutschlands, Tatendrang, blühende Landschaften. Die Osterweiterung Europas stand bevor. Hinzukam der große Wunsch nach einer Versöhnung mit den Polen. In der Theorie gab es diese Versöhnung bereits. Nun sollte sie auf den Alltag übergreifen.

Mit der täglichen Versöhnung war es nicht leicht

Mit jener täglichen Versöhnung war es nicht leicht. Als ich in Frankfurt (Oder) ein Geschäft betrat, merkten die Verkäuferinnen sofort, dass ich Pole war. Eine von ihnen stellte sich während meines Einkaufes penetrant neben mich, blickte gleichgültig in die Ferne und klopfte mit ihrem Fuß rhythmisch auf den Boden. Ich ertrug es und wunderte mich nicht. Ich hatte 35 Jahre in Warschau gelebt und wurde lediglich Zeuge eines einzigen Diebstahls in einem Geschäft. Im Laufe der ersten fünf Jahre, die ich in Frankfurt wohnte, wurde ich Zeuge von fünf Ladendiebstählen. Alle wurden durch meine Landsleute begangen. Einmal half ich gar der Polizei zwei junge polnische Ladendiebe zu fassen. Am nächsten Tag stand in der lokalen Zeitung: »Ein engagierter Frankfurter Bürger hat zur Fassung von zwei polnischen Dieben beigetragen«.

»Nach Polen gehe ich nie!« Polen, das war Schmutz und Unordnung, zwielichtige Gestalten an jeder Ecke, Diebstahl und Schmuggel. »In Polen ist nichts zu holen«. Wenn jemand dorthin ging, dann nur aus niederen Motiven: wegen der billigen Zigaretten, zum günstigen Tanken, oder um preiswert Brot und Wurst zu kaufen. Ich gebe offen zu, dass auch ich angewidert war. Die Grenzbrücke zwischen Frankfurt und Słubice erinnerte damals an eine Kloake. Durch die überfüllten Kontrollkanäle zwängten sich die Schwarzarbeiter, Diebe und Schmuggler, aber auch Hochschullehrer, Studenten und lokale Politiker sowie – selbstverständlich – der große Rest jener, die zumeist behaupteten, dass sie nicht hinübergehen, um dann doch voll beladen mit Zigaretten, Brot und Käse zurückzukehren.

Furcht vor dem wilden osteuropäischen Land

Ich blickte auf jene Gestalten und es lag mir förmlich auf der Zunge zu sagen: »Nein, das ist nicht möglich. Wie sollte hieraus ein deutsch-polnisches universitäres Zentrum geschaffen werden, Demokratie und Wohlstand, eine deutsch-polnische Versöhnung, eine Vereinigung Europas?«

Bis zur Mitte der Neunziger Jahre glich die Grenzbrücke einem Schlachtfeld. Sie war umstellt von Grenzern, Polizei und Zoll und umgeben von einem Gitterkäfig, der verhinderte, dass polnische Schmuggler ihre Ladungen mit Zigaretten auf den Frankfurter Bürgersteig warfen. Die Belagerung durch Schmuggler war derart unerträglich, dass die deutschen Zöllner zu harten Maßnahmen griffen. Man verhaftete einige Dutzend Personen und für einige Zeit kehrte Ruhe ein. Es gab einen Toten. Er wurde durch einen von seinem »Kollegen« von der Brücke auf die Frankfurter Promenade heruntergeworfenen Sack mit Zigaretten erschlagen.

Mitte der Neunziger Jahre reifte die Idee einer gemeinsamen Einrichtung der Viadrina in Frankfurt (Oder) und der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen: das Collegium Polonicum. In Słubice, gleich hinter der Brücke sollte mit polnischen, deutschen und europäischen Geldern das größte und schönste Universitätsgebäude in Polen entstehen. Ich wurde zum Direktor dieser Institution Schon bevor der Bau abgeschlossen wurde, begrüßte ich einige Gäste aus Deutschland (Wissenschaftler, Politiker, Studien- und Besuchergruppen) und erzählte über das Projekt. Ich wartete in der Regel bereits vor dem polnischen Brückenkopf, da beinahe alle sich fürchteten, in ein wildes osteuropäisches Land vorzudringen. Ich führte sie durch die gemieteten, provisorischen Räumlichkeiten des Collegium Polonicum und sprach ehrlich mit ihnen. Viele von ihnen vertrauten mir an: »Wissen Sie, wenn man die Brücke überquert, erlebt man einen Kulturschock. « Ich lachte. Innerlich litt ich, die Hoffnung verlor ich allerdings nicht.

Auf der deutschen Seite bedurfte es dieser Hoffnung ebenfalls. Alle zwei, drei Monate schlugen deutsche Rowdys auf polnische Studenten ein. Die Eltern der Studierenden riefen mich an und fragten, ob die Viadrina die Sicherheit ihrer Kinder garantieren könne. In der polnischen und europäischen Presse gab es immer wieder Schlagzeilen: »Der Faschismus hebt in Ostdeutschland wieder sein Haupt.« Ich dagegen wiederholte in der Öffentlichkeit: »Es ist kein Faschismus. Die jungen, lokalen Platzhirsche verteidigen schlicht ihr Territorium gegenüber Zugezogenen. Mit der Zeit wird sich alles legen.« In Słubice schlug man ebenfalls ständig auf die Studenten ein, doch interessierte dies niemanden. Mit meiner Meinung machte ich mir nur Feinde.

Keine Angst vor polnischer Sprache. Gesehen auf dem Europafest in Potsdam am 5. Mai 2023
© BLPB

Entdeckt auf dem Europafest in Potsdam am 5. Mai 2023

Späte Genugtuung und neue Schilder

Dann kam die späte Genugtuung: In den letzten zehn Jahren gab es keinen Übergriff mehr. Als 1998 das erste Gebäude des Collegium Polonicum übergeben wurde, begann sich nicht nur Słubice zu ändern. Ganz Polen begann sich mental zu öffnen und zu erhellen. Die Beziehung der Brandenburger zu den Polen begann sich auf eine seltsame Art und Weise zu ändern. In den Geschäften stand nun nicht länger nur »Jeder Diebstahl wird angezeigt«, sondern es erschienen auch Schilder wie »Serdecznie witamy (Herzlich willkommen)« und »Mówimy po polsku (Wir sprechen Polnisch)«. An der Viadrina stellten die Polen ein Drittel der Studierenden. Es begann eine Zusammenarbeit zwischen den Kommunalvertretern, zwischen kulturellen Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und Schulen.

Die Deutschen begannen die Polen als Beitrittskandidaten der Europäischen Union wahrzunehmen. Helmut Kohl war der beliebteste ausländische Politiker. Ein Witz besagt, dass er, wenn er in Polen als Präsident kandidiert hätte, mit Pauken und Trompeten obsiegt hätte. Journalisten und Historiker sprachen von den besten Beziehungen in der 1.000-jährigen deutsch-polnischen Geschichte. Die Grenze änderte sich ins Unkenntliche. Ich reiste damals in die Ukraine. An der polnisch-ukrainischen Grenze hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis: endlose Schlangen, eine gigantische Schmuggelei, rüpelhaftes und brutales Verhalten von Beamten. Danach kehrte ich mit dem Zug nach Frankfurt zurück. In Rzepin stiegen Grenzkontrolleure ein. Ein Deutscher und ein Pole, die zusammenarbeiteten und gemeinsam die Reisedokumente überprüften. Ruhig, höflich und schnell. »Das ist schon fast Europa«, dachte ich.

Die Vereinigung Europas geübt

In der Nacht zum 1. Mai 2004 plante man auf der Stadtbrücke zwischen Frankfurt und Słubice Feierlichkeiten anlässlich des polnischen Beitritts zur Europäischen Union. Aus Warschau sollte ein Freund zu mir kommen und wir wollten uns in Słubice treffen. Eine Stunde vor den Feierlichkeiten verließ ich meine Wohnung in Frankfurt und bereits in der Nähe der Brücke traf ich auf eine so große Menschenmenge von Frankfurtern, dass ich mich außer Stande sah, auf die andere Seite der Brücke zu gelangen.

Ich blickte in die gleichen Gesichter und konnte nichts mehr von dem ablesen, was ich noch vor einem Jahrzehnt beobachtet hatte. Weder Verachtung noch Angst noch Misstrauen. In ihren Gesichtern war – so schien es mir – Begeisterung und Freude zu sehen. Ich rief meinen Freund an und erzählte ihm davon: »Das ist auch ein stückweit Dein Verdienst«, hörte ich. Dies war eines der größten Komplimente, die ich jemals erhalten habe.

Hiernach übte man die Vereinigung Europas. Die Vereinigung der Projekte, der Kontakte, des Jugendaustauschs, der Kulturschöpfer und der Wissenschaftler. In Polen baute man aus EU-Geldern Schulen, Straßen und Autobahnen. Das Land verschönerte sich vor unseren Augen. Die Brücke zwischen Frankfurt und Słubice wurde erneuert. Mehr und mehr Frankfurter sagten mir, dass sie Freunde in Polen hätten. Nicht jene aus alten Tagen, sondern neue. Irgendwo las ich damals die Ergebnisse einer Umfrage. 72 Prozent der Deutschen hätten nichts dagegen, wenn sich durch Heirat ihre Familie um eine polnische Person erweitern würde. 1991 betrug der Prozentsatz lediglich 3,5 Prozent. Unter den Polen durchgeführte Umfragen brachten beinahe die gleichen Ergebnisse. Es entstand eine ganze Schicht von Grenzgängern: die Arbeit auf der einen, die Wohnung auf der anderen Seite des Flusses. Hier der HNO-Arzt, dort der Zahnarzt.

In der Nacht des 21. Dezembers 2007, als Polen dem Schengen-Raum beitrat, stieg ich mit meiner Frau ins Auto und wir fuhren über die Grenze. Einmal, zweimal, dreimal. Heute fahren die Autos zwischen Frankfurt und Słubice ruhig und langsam. Die Menschen spazieren als würden sie den Pont Neuf in Paris überschreiten. Wenn ich über die Brücke gehe, frage ich mich bei entgegenkommenden Menschen, ob es sich um Deutsche oder Polen handelt. Bei älteren Leuten errät man es zumeist. Geht allerdings ein junges Ehepaar mit Kindern vorbei, kann man sich schon nicht mehr so sicher sein.

»Nach Polen gehe ich nie …«. Die Kollegin, die damals diese Worte sprach, traf ich vor einiger Zeit in einer Wellness-Pension in Ośno, 20 Kilometer von der Grenze entfernt. Ich erkundigte mich, ob es ihr hier gefällt. »Weißt Du, Kristof, alles hier ist so vornehm, so elegant, die Bedienung so freundlich. Ich bin begeistert!«

Krzysztof Wojciechowski
Aus: Das Brandenbuch. Ein Land in Stichworten. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 3. Auflage, Potsdam 2020

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