Hingehen oder nicht?

Wahlen gelten als ein Höhepunkt demokratischer Beteiligung. Immer mehr Menschen in Deutschland wollen aber nicht mehr wählen gehen. Vor allem Zweitwähler verweigern die Wahl. Erstwähler sind hingegen noch neugierig und probieren das Wählen aus.

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"Schlechte Kandidaten werden gewählt von guten Bürgern, die nicht zur Wahl gehen." (Thomas Jefferson, 1743–1826, US-Präsident). Gehst du hin?

Wahlen sind ein Höhepunkt demokratischer Beteiligung, so heißt es zumindest in der politischen Theorie. Das sehen hierzulande aber immer mehr Menschen ganz anders. Für sie sind Wahlen pure Zeitverschwendung. Die Folge: Die Wahlbeteiligung liegt seit Jahren bei rund 70 Prozent. Das ist ein Grund, genauer hinzuschauen. Denn wenn sich 30 Prozent der Wahlberechtigten, das heißt jeder Dritte, nicht an Wahlen beteiligen, dann stellt sich die Frage, wie repräsentativ das gesamte System ist.

Diese Entwicklung begann schon in den 1980er Jahren, zuerst auf kommunaler Ebene, dann auch bei Landtags- und Bundestagswahlen. So stieg allein zwischen den Bundestagswahlen 1998 und 2009 die Zahl der Nichtwähler von rund 11 auf über 18 Millionen. Zur Bundestagswahl 2013 gab es zwar im Vergleich zu 2009 einen leichten Anstieg in den Wählerzahlen, doch 17 Millionen Menschen in Deutschland haben ihr Wahlrecht nicht in Anspruch genommen.

Hohe Nichtwählerzahlen:  Zur Bundestagswahl 2013 war der Anteil derjenigen, die nicht zur Bundestagswahl gingen, größer als bei der ersten Wahl 1949. Bemerkenswert, denn damals steckte das demokratische System der Bundesrepublik noch in den Kinderschuhen. Die Wahlbeteiligung lag bei 78,5 Prozent; 2013 bei 71,5.

Dabei erhalten Nichtwähler zunehmend Unterstützung selbst von (ehemaligen) Politikern. So äußerte Marina Weisband, die zu den bekanntesten Mitgliedern der Piratenpartei zählt, im Vorfeld der Bundestagswahl 2013, sie habe großes Verständnis für Nichtwähler. Viele Wähler hätten das Gefühl, ihre Stimme ändere nichts und "die da oben" machten ohnehin, was sie wollen.

Wissenschaftler wie der Bielefelder Politikprofessor Detlef Sack haben diese Wahrnehmung bestätigt. Gerade in den sozialen Problembezirken der Städte werde wenig gewählt. Dort lebten Menschen mit einem geringen Bildungsgrad, mit relativ geringem Einkommen und häufig ohne Arbeit. Bei ihnen habe sich aus dieser Erfahrung heraus eine allgemeine Distanz zur Demokratie aufgebaut. Dies könnte, so der Forscher, zu einer Gefahr für die Demokratie werden.*

Lesetipp

 

Gefahr für die Demokratie?

Ganz anders sieht der Schriftsteller Thomas Brussig die Sache. Nicht der Nichtwähler sei eine Gefahr für die Demokratie, sondern die Wahlkämpfe. Wenn er Politiker im Wahlkampf erlebe, verliere er die Lust, auch nur einen von ihnen zu wählen. Brussig sieht im Nichtwählen etwas Positives, weil es Ausdruck von individueller Freiheit sei.

Nicht zu wählen bedeutet, sich nicht den politischen Verhältnissen unterworfen zu fühlen. Ich finde, das ist keine schlechte Situation. Es ist sogar ein erstrebenswerter Zustand. Nicht zu wählen bedeutet, Freiheit von der Politik auszudrücken. Das ist etwas sehr, sehr Kostbares."*

Brussig ist nicht irgendwer. Seine Stimme wird gehört - weltweit. Aufgewachsen in der DDR, wurde er 1995 mit dem Roman zur Wende "Helden wie wir" bekannt. Seine Ansicht zum Nichtwählen bildete sich nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen in der DDR heraus, wo es keine freien Wahlen gab und Nichtwählen mit Repressionen belegt wurde.

Dennoch, es gibt starke Argumente für den Gang zur Wahl. Extremisten könnte es sonst gelingen, in Massen politisch desinteressierte Nichtwähler für sich zu gewinnen, meint etwa Heribert Prantl, Journalist der Süddeutschen Zeitung. Viele Nichtwähler seien in einen regelrechten Langzeitschlaf versunken.*

Hier scheint Prantl jedoch zu irren. Eine Forsa-Studie zeigte Anfang 2013, dass sich die Nichtwähler selbst nicht als Dauer-Nichtwähler oder, mit Prantls Worten,  als Langzeitschläfer fühlen. Sie sehen sich eher als „Wähler auf Urlaub“ und hoffen, sich bald wieder an Wahlen zu beteiligen.

Etwas bewegen wollen:  Bei der ersten freien und zugleich letzten Wahl zur Volkskammer in der DDR am 18. März 1990 betrug die Wahlbeteiligung 93,4 Prozent. Niemals war bei freien Wahlen zu einem deutschen Parlament die Wahlbeteiligung höher.

Was ist zu tun?

Das entscheidende Motiv für Nichtwähler, bei Wahlen zu Hause zu bleiben, ist die Entfremdung zwischen der Politik und dem Bürger. Das hat die Forsa-Studie eindeutig gezeigt. Was heißt das? Zunächst einmal, dass die Bürger mit ihren Politikern nichts anfangen können. Sie verstehen sie nicht, sie haben das Gefühl, dass ihnen in ihren konkreten Problemen nicht geholfen wird, dass sie selbst als Bürger nichts bewegen können.

Deshalb wird auch die Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre nicht automatisch eine höhere Wahlbeteiligung bringen, ebenso wenig wie Online-Wahlen oder die vielfach geforderte Ausweitung "direkter Demokratie". Das meinen zumindest die von Forsa befragten Nichtwähler und Unentschlossenen.

Heute schon gewählt? Foto: time. / photocase.com

Foto: time. / photocase.com

Um die Wähler aus dem Urlaub zu holen, sollten statt dessen Politiker anfangen, eine verständliche Sprache zu sprechen, so das Meinungsforschungsinstitut. Mit Blick auf die Medien sei es zum Beispiel bemerkenswert, dass die BILD-Zeitung von Nichtwählern zur Information über politische Sachverhalte stärker genutzt werde als von Wählern.

Ein Journalist des "Tagesspiegel" forderte deshalb auch Talkrunden für Wähler, für die Engagierten, die immerhin noch 70 Prozent ausmachen. Sie hätten das Recht, mit Nichtwählern öffentlich zu debattieren. Sonst könne leicht der Eindruck entstehen, sie seien nur die "doofen Demokraten", die den Zeitgeist nicht erfassen.

Es sind vor allem die Erstwähler, die gern zur Wahl gehen. Das war zu allen Wahlen in der Bundesrepublik so. Warum? Die Antwort ist sehr menschlich: Sie sind neugierig. Doch viele von ihnen gehen nicht ein zweites Mal wählen, so Forsa-Chef, Manfred Güllner:

Ja, was dann kommt, ist natürlich das, was auch manche Menschen in die Wahlenthaltung treibt, dass man doch enttäuscht ist von der Politik. Und das ist ja das, was uns wiederum diejenigen sagen, die nicht mehr zur Wahl gehen, dass sie die Politik nicht mehr verstehen, dass die eine Sprache hat, die unverständlich ist, und dass man sich nicht mehr aufgehoben fühlt in dem, was die Politik macht. Das ist einer der größten Vorwürfe. Man wird also, wenn man jetzt aus einer gewissen Euphorie zum ersten Mal gewählt hat, von der Politik enttäuscht."*

Hingehen oder nicht hingehen, das entscheidet jeder Bürger am Wahltag allein. Hauptsache, man wundert sich nicht, dass alles anders ist - wenn man aus dem Urlaub zurück kommt.

BLPB, April 2013 (zuletzt aktualisiert im Januar 2014)

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