Der Weg zur Regierungskoalition

Selbst eine Liebesheirat braucht einen Ehevertrag!

„Alleine regieren“ ist der Traum jeder Partei. Die Bundesrepublik ist allerdings eine Koalitionsdemokratie, denn für eine stabile Regierung sind Bündnispartner nötig. Wie entstehen Regierungskoalitionen, die manchmal Liebesheirat, aber oft eher Vernunftehe sind? Und welche Bedeutung hat dabei der „Ehevertrag“?

Wahlprogrammvergleich
© Julia Praschma

Ist „Single sein“ nicht schöner? Warum wir Koalitionen im Bundestag brauchen

Das Votum des Wahlvolkes hat meist zur Folge, dass keine Partei 50 Prozent der Sitze im Deutschen Bundestag besetzt. Diese so genannte „absolute Mehrheit“ ist aber nötig, um die Kanzlerin/den Kanzler zu wählen (Art. 63 Abs. 2 Grundgesetz) und eine stabile Regierung zu bilden. Als „Single“ ohne Mehrheit kann eine Partei meist auch nichts von dem Programm umsetzen, mit dem sie im Wahlkampf geworben hat. Daher bilden einige Parteien ein (Regierungs-)Bündnis auf Zeit. Die übrigen Bundestagsfraktionen gehören zur Opposition, die der Regierung kritisch auf die Finger schaut.

Liebesheirat oder eher Vernunftehe?

Parteien unterscheiden sich in ihren Zielen sowie den Mitteln, um ihre Politikvorstellungen zu verfolgen („Umweltschutz“ kann zum Beispiel über staatliche Investitionen oder marktwirtschaftliche Lösungen erreicht werden). Zugleich wissen die Parteien: Wenn eine Regierungskoalition funktionieren soll, muss an einem Strang gezogen werden. Das klappt in der Regel dann am besten, wenn es große programmatische Schnittmengen gibt.

Manchmal macht das Wählervotum aber eine „Vernunftehe“ nötig, wenn sonst kein anderes Bündnis möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist heute größer denn je, denn die Volksparteien SPD und CDU erreichen kaum mehr die Zustimmung in der Wählergunst wie früher. Das Parteiensystem hat sich pluralisiert, mit der Folge, dass „lagerübergreifende“ Koalitionen bzw. Koalitionen aus drei (inklusive der CSU sogar vier) Parteien nötig werden.

Danny Schindler
© IParl
Dr. Danny Schindler ist Mitarbeiter beim Institut für Parlamentarismusforschung in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrbereiche sind Fraktionen, Parteien und Parlamente in demokratischen und autoritären Systemen.

 

Ohne „Ehevertrag“ geht es nicht

Egal, ob man den „Traumpartner“ gefunden hat oder nicht: Eine schriftliche Vereinbarung über die Ziele, die während der gemeinsamen Regierungszeit umgesetzt werden sollen, gehört seit den 1980er Jahren dazu. Der Umfang dieser so genannten Koalitionsverträge ist seitdem auch stark angewachsen. Wurden 1983 noch 2.700 Wörter niedergeschrieben, waren es 2002 schon 26.700. Das Bündnispapier der aktuellen Großen Koalition umfasst 63.200 Wörter auf 175 Seiten!

Eine schriftliche Vereinbarung über das Bevorstehende hat vor allem zwei Vorteile: Da gleich am Anfang feste Absprachen zu Streitthemen getroffen werden, treten große Konflikte während der Regierungszeit seltener auf. Außerdem kann die Öffentlichkeit überprüfen, ob die Abmachungen der Koalition eingehalten werden.

Von der Sondierung zur innerparteilichen Mitgliederabstimmung: der Weg zum Koalitionsvertrag

Wenn jeder etwas vom (Koalitions-)Kuchen abbekommen möchte, muss geteilt werden. Wie die Aufteilung aussieht, wird während der Koalitionsverhandlungen besprochen. Für diese existieren überraschenderweise keinerlei rechtliche Regelungen, auch was die zeitlichen Fristen betrifft. Nach der Bundestagswahl 2017 dauerte es ganze 171 Tage, bis die Große Koalition stand – ein Rekordwert. In diesen Zeitraum fallen allerdings auch so genannte Sondierungen, bei denen die Parteiführungen austesten, ob eine gemeinsame Grundlage für ein tragfähiges Bündnis besteht.

Wie die Jamaika Sondierungen gezeigt haben, können diese Vorverhandlungen auch scheitern. Die anschließenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD waren „schon“ nach 46 Tagen abgeschlossen. Historisch betrachtet lässt sich sagen: In den ersten fünf Jahrzehnten der Bundesrepublik waren die Sondierungsphasen wesentlich kürzer, nicht aber die Koalitionsverhandlungen im engeren Sinne.

Lesetipp

Beteiligt sind an den Koalitionsgesprächen vor allem die Parteiführungen sowie die fachlich spezialisierten Abgeordneten aus dem Bundestag. Die Größe der Partei spielt für den Verhandlungserfolg keine zentrale große Rolle. Auch ein späterer Juniorpartner kann viel herausholen, weil am Ende ja seine Stimmen gebraucht werden.

Generell gilt: Jede Partei muss kompromissfähig sein und in einzelnen Punkten nachgeben. Oder man trifft sich sprichwörtlich in der Mitte. All dies ist kein Zeichen von Schwäche. Die Suche nach Kompromissen gehört nicht nur allgemein zum gesellschaftlichen Dasein (etwa in Familien und Vereinen). Sie ist auch das Alltagsgeschäft der repräsentativen Demokratie. Am Ende stimmen noch Parteitage oder – ein jüngster Trend – alle Parteimitglieder über den ausgehandelten Koalitionsvertrag ab. Es folgen Vertragsunterschrift und Kanzler(in)wahl.

Papier ist geduldig? Manchmal schon.

Die Koalitionsvereinbarung ist wichtig. Sie stellt aber weder einen juristisch einklagbaren Vertrag dar, noch ist sie in Stein gemeißelt. Erstens können unvorhergesehene Entwicklungen auftreten. Die Corona-Pandemie hat zum Beispiel die Absprachen in der Gesundheits- und Haushaltspolitik teilweise außer Kraft gesetzt. Zweitens gehört es zum Grundprinzip eines starken Parlaments, dass die von uns gewählten Abgeordneten immer wieder eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Dafür stehen sie auch im ständigen Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Man kann also nicht direkt nach der Bundestagswahl alle Details für die gesamte vierjährige Regierungszeit regeln. Anschließend treten die Koalitionspartner erneut vor das Wahlvolk – dann wieder als „Singles“.

Danny Schindler, September 2021
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