Das Jahr des Terrors

2015 wird nicht als ein Jahr der Annäherung, der Entspannung oder Friedfertigkeit in die Geschichte eingehen. Islamisten und Rechtsextreme greifen das demokratische System sowie das friedliche Zusammenleben frontal an. Die Gesellschaft muss Antworten auf diese Bedrohungen finden.

Es wird nicht als ein Jahr der Annäherung, der Entspannung oder Friedfertigkeit in die Geschichte eingehen, das Jahr 2015. Die Konflikte in Deutschland und Europa sind komplex, Islamisten und Rechtsextreme greifen das demokratische System sowie das friedliche Zusammenleben frontal an. Die Gesellschaft muss Antworten auf diese Bedrohungen finden.

Das Jahr begann mit dem Angriff auf „Charlie Hebdo“: Islamistische Attentäter überfielen im Januar in Paris die Redaktion des Satire-Magazins, sie erschossen Redakteure, Zeichner und Polizisten. In einem koscheren Supermarkt nahmen weitere Terroristen Geiseln und töteten mehrere Menschen.

Fast genau 1000 Kilometer östlich von Paris entdeckten diejenigen, die sonst „Lügenpresse“ skandierten, plötzlich ihr Herz für die Medien: Bei „Pegida“ in Dresden solidarisierten sich viele Teilnehmer mit den Opfern bei „Charlie Hebdo“. Der Feind meines Feindes müsse doch mein Freund sein, so die Denkweise dahinter. Doch die Überlebenden bei „Charlie Hebdo“ wehrten sich mit Karikaturen gegen die Vereinnahmung durch rechtspopulistische Propaganda; sie sahen in der Solidarität von „Pegida“ lediglich eine Instrumentalisierung des Anschlags – und betrachten sowohl Islamisten als auch einen Mob, der „Lügenpresse“ skandiert, als Gegner der Pressefreiheit.

Während sich „Pegida“ zwischenzeitlich als Hüter der Pressefreiheit inszeniert hatte, stieg in den folgenden Monaten die Zahl der Angriffe auf Reporter kontinuierlich. Auch am Rande von AfD-Kundgebungen kam es zu Pöbeleien und Angriffen auf Journalisten, bei klassischen Neonazi-Demonstrationen gehört dies ohnehin seit Jahren zum Alltag.

Rechter Terror

In zahlreichen Gemeinden und Städten, vor allem in Ostdeutschland, wurden indes mithilfe des Internets gezielt Bürgerinitiativen und Kundgebungen gegen Flüchtlinge organisiert. Es kam zu schweren Ausschreitungen, beispielsweise in Heidenau. Zwischen Januar und Dezember gab es in Deutschland mehr als 220 gewalttätige Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte, darunter waren allein 93 Brandanschläge, sieben davon in Brandenburg.* Eine Vervielfachung im Vergleich zum Vorjahr.* Dass es dabei keine Todesopfer gab, ist wohl eher glücklicher Zufall.

Der Forscher Andreas Zick sieht die Wurzeln für die Welle der Gewalt auch in der „Pegida“-Bewegung, wo NPD-Funktionäre, rechtsextreme Hools, AfD-Anhänger, neurechte Publizisten und „besorgte Bürger“ gemeinsam demonstrieren: "Rechtspopulismus und Rechtsextremismus sind zusammengewachsen", stellte Zick im Deutschlandfunk fest. Er spricht von einer rechtsterroristischen Mentalität, die sich bilde: „Das Rechtssystem, was vor Ort eigentlich gelten sollte, das wird infrage gestellt und als illegitim betrachtet – Gewalt dagegen als legitim.“

Auch die Politik wurde im vergangenen Jahr nicht nur verbal attackiert: In Köln griff ein Rechtsextremer zum Messer und verletzte eine Politikerin schwer, in mehreren Städten drohten Rechtsextreme offen gegen Bürgermeister und andere Politiker. Bei „Pegida“ wurde ein Galgen für Kanzlerin Merkel „reserviert“. Eindeutige Botschaften.

Terror als Kommunikationsstrategie

Auch mit einem Anschlag, erklärt Robin Schroeder vom Institut für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel, solle eine Botschaft kommuniziert werden. Der rechtsextreme Terror adressiert diese zum einen an Flüchtlinge, denen signalisiert wird: „Wir wollen euch nicht hier haben, verschwindet, sonst kann es auch euch treffen.“ Dann sei es aber auch Kommunikation in Richtung Regierung: „Wir sind nicht einverstanden mit eurer Politik und bereit, dagegen gewaltsam Widerstand zu leisten, bis ihr da oben eure Politik ändert.“ Beziehungsweise bis zu einem völkischen Umsturz. Terroristen wollten, betont Schroeder, „mit ihren Taten polarisieren, radikalisieren und auch mobilisieren“.

Die Botschaft der islamistischen Terroristen richtet sich nicht primär an Minderheiten: Bei den Pariser Anschlägen im November 2015 standen die willkürlich ermordeten Opfer stellvertretend für einen westlichen Lebensstil, für Freiheit und Freude. Es war ein Angriff auf das, wofür Paris steht.* Aber solche Anschläge sollen auch neue Sympathisanten mobilisieren. Der „Islamische Staat“ und seine europäischen Anhänger wollen bürgerkriegsähnliche Zustände provozieren, eine Radikalisierung der von ihnen verhassten liberalen Gesellschaft, die sich nach und nach von Innen selbst zerstören soll. Die Visionen vom blutigen, heldenhaften Endkampf, die Gewalttätigkeit der Sprache der Islamisten ähnelt der verbalen Militanz von Rechtsextremen: Gegner werden dämonisiert, entmenschlicht und als Ziele für Gewalttaten markiert.*  Aus Worten werden schließlich Taten.

Profiteure des Hasses

Von dem islamistischen Terrorismus profitieren Rechtspopulisten: In der ersten Runde der Regionalwahlen in Frankreich im Dezember wurde die „Front National“ erstmals landesweit zur stärksten Kraft; in Deutschland legt die AfD bei Umfragen kräftig zu. In einer Karikatur spitzte ein Zeichner diese Entwicklung satirisch zu: Ein Neonazi schüttelt einem islamistischen Attentäter die Hand und bedankt sich für die Gewalt: „Merci!“ Die Stärke der neuen Rechten ist aber auch eine Schwäche des progressiven Lagers, dem viel zur rechtsextremen Gewalt, aber wenig zur islamistischen Bedrohung einfällt – so als seien diese Phänomene nicht beide lebensgefährlich und Ausdruck einer demokratischen Krise.

Es ist ein dynamischer Prozess in Gang gesetzt worden, der sich nur schwer stoppen lässt. Angst, Fanatismus und Hass sind Resultate aus dem und gleichzeitig Treibstoff für den Terrorismus. Einschüchterung und Gewalt als vermeintlich legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, um die eigene Ideologie kompromisslos durchzusetzen und die parlamentarische Demokratie zu zerstören: Rechtsextreme und islamistische Fanatiker haben mehr gemeinsam, als ihnen lieb sein dürfte. Sie sind vereint im Hass – im Hass auf alle, die ihrem Weltbild nach minderwertig oder verachtenswert seien. Ihre Feindbilder sind die liberale Demokratie, der säkulare Rechtsstaat, die individuelle Freiheit.*

Zivilgesellschaft ist gefordert

Zur individuellen Freiheit gehört auch Verantwortung: Wir müssen aus den Ereignissen des zu Ende gehenden Jahres lernen – und neue Strategien entwickeln, um Demokratie und Grundrechte gegen reaktionäre Attacken, ob von Islamisten oder Rechtsextremen, zu verteidigen. Die universellen Menschenrechte sind dabei eine unerschütterliche Basis, von der aus man Fanatikern argumentativ entgegentreten kann. Diese Auseinandersetzung ist nicht allein die Aufgabe des Staates. Wer Demokratie schützen will, kann nicht einfach nach Vater Staat rufen, sondern ist selbst verantwortlich – ob bei Facebook, in der Schule, im Gemeinderat und überall anders. Hier liegt eine Chance, die gegenwärtige Krisen und die Bedrohungen zu nutzen, um die Demokratie mit neuem Leben zu erfüllen. Oder um es mit den beiden Sätzen des Jahres 2015 zu formulieren: „Je suis Paris!“ und „Wir schaffen das!“

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Patrick Gensing ist Blogger, Journalist und Nachrichtenredakteur. Für die Netzinitiative publikative.org – eine Seite, die zunächst als NPD-Watchblog bekannt wurde, wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er schreibt zu Fachthemen wie Antisemitismus, Medien, Rechtspopulismus und -extremismus.

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Kommentare

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Ja, alles sehr schön, einleuchtend und vor allem sehr, sehr einfach erklärt.

„Wir sind nicht einverstanden mit eurer Politik und bereit, dagegen gewaltsam Widerstand zu leisten, bis ihr da oben eure Politik ändert.“ - diese Maxime kommt jedem auch nur ein wenig historisch und politisch Gebildeten sehr bekannt vor. Sie prägte über Jahrhunderte das Denken und Handeln von Menschen, die der verhassten bürgerlichen Gesellschaft den Kampf angesagt hatten und sich eifrig für ihren Sturz und die Umwertung aller traditionellen Werte einsetzten. Nur waren das damals noch keine Islamisten oder "Rechtsterroristen" - sondern Menschen, denen von Teilen des politischen Spektrums überaus edle und fortschrittliche Motive unterstellt wurden.

Manche meinten sogar, dass diese Kämpfer "im Dienste der gesamten Menschheit" handelten.

Warum wird in ihrem Beitrag davon jedoch nicht ein einziges Wort erwähnt, Herr Gensing?

Kann man nicht nur dann etwas erfolgreich bekämpfen, wenn man dabei die Auseinandersetzung mit den Splittern im eigenen Auge nicht scheut?

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