Führen Wahlen zur Demokratie?

Ohne freie Wahlen ist für die meisten von uns Demokratie nicht denkbar. Sie sind die wichtigste Form demokratischer Kontrolle. Aber führen Wahlen auch zur Demokratie?

Illustration zur repräsentativen Demokratie
© Großstadtzoo

Wo immer heute ein Volk ein autoritäres Regime abschüttelt, einen Diktator oder eine Diktatorin verjagt, finden danach Wahlen statt. Dabei folgen die Wahlverfahren und die politischen Körperschaften, die gewählt werden sollen, in der Regel dem Muster „westlicher“ Demokratien. Sie treffen aber auf eine politische Kultur und eine Geschichte, die nicht demokratisch geprägt sind und auf eine Bevölkerung, die westliche Demokratien nur aus den Medien und aus dem Internet kennt.

Schaut man auf Länder wie Afghanistan, Algerien, Ägypten oder den Irak, dann haben die Wahlen dort weder zur Durchsetzung demokratischer Verhältnisse noch zu größerer politischer Stabilität geführt. Auch das Beispiel der DDR zeigt, dass Wahlen nicht zwangsläufig zu einer demokratischen Gesellschaft führen.

Über die Qualität des Wahlrechts und des Wahlverfahrens können vier wesentliche Fragen Auskunft geben:

  • Wer darf wählen?
  • Wer darf gewählt werden?
  • Wie wird gewählt?
  • Was wird aus dem Ergebnis gemacht?

Das deutsche Wahlrecht ist so ausgestaltet, dass Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim stattfinden. Das ist so festgelegt im Grundgesetz Artikel 38. Dabei wird die politische Macht von den Wahlberechtigten auf ein Parlament übertragen und auf Personen, die sie repräsentieren (repräsentative, parlamentarische Demokratie). Diese Machtübertragung - und das ist ganz wesentlich - wird immer nur auf Zeit zugeteilt, sie wird verliehen und muss regelmäßig dem Volk zurückgegeben werden.

Lesetipp

Zerbrechliches Gefüge

Der Rückblick auf die Jahre 1928 bis 1933, also kurz bevor Adolf Hitler in Deutschland eine nationalsozialistische Regierung bildete, zeigt deutlich, wie demokratische Wahlen unter bestimmten Voraussetzungen zur Abwahl der Demokratie und in eine Diktatur führen können.

„Hitler kam nicht durch Wahlen an die Macht, aber ohne Wahlen wäre er nie an die Macht gekommen“

fasste der Historiker Peter Borowsky das komplizierte und zugleich sehr zerbrechliche Gefüge demokratischer Wahlen zusammen. Je unzufriedener die Wahlberechtigten mit ihren gewählten Abgeordneten im Parlament sind, um so höher ist die Chance auf  - antidemokratische - Polarisierungen.

So hatten nach mehreren Wahlen die nationalsozialistische (NSDAP) und die kommunistische Partei (KPD) im Juli 1932 im Reichstag der Weimarer Republik eine absolute Mehrheit errungen. Das Land war parlamentarisch nicht mehr regierbar. Peter Borowsky beschrieb die Grundstimmung unter den Wahlberechtigten als „Überdruss am parlamentarischen System“. Dies zeigte sich auch bei den letzten freien Wahlen im Deutschen Reich, den Wahlen zu den preußischen Provinziallandtagen am 12. März 1933: die NSDAP in Brandenburg gewann mit 53,2 Prozent die absolute Mehrheit.

Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat nach der Erfahrung des Nationalsozialismus die besondere Bedeutung jedes einzelnen Menschen für einen freiheitlichen Staat hervorgehoben. Demnach kann dieser nur bestehen, wenn seine Bürgerinnen und Bürger die staatlich zugesicherte Freiheit auch als hohe moralische Eigenverantwortung verstehen. Mit anderen Worten, wenn die gesellschaftlichen Werte, die im Grundgesetz verankert sind, von der Mehrheit der Menschen nicht gewollt sind, dann gerät die freiheitlich-demokratische Grundordnung an ihre Grenzen. Demokratie ist an dieser Stelle eine Lebensform.

Wettbewerb politischer Ideen und Konzepte

Wahlverfahren, das zeigen rund 200 Jahre Geschichte moderner Wahlen, sind anfällig gegen Beeinflussung, Bestechung, Manipulation und Fälschung. Diesen Risiken steht aber eine entscheidende Chance gegenüber: Wahlen organisieren einen Wettbewerb politischer Ideen und Konzepte. Bei alternativen Verfahren wie zum Beispiel dem Losverfahren, bei dem ausgelost wird, wer die Interessen des Volkes repräsentieren soll, ist dieser Wettbewerb nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig.

Insofern mobilisieren Wahlen nicht nur die politischen Kräfte, die sich zur Wahl stellen, sondern auch die Wahlberechtigten und damit letztlich die Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger. Dabei kommt den politischen Parteien eine besondere Bedeutung zu, die das Grundgesetz in Artikel 21 definiert. Umgekehrt gilt: Verweigert sich die Bürgergesellschaft den Parteien und der Politik, gehen die Menschen also nicht mehr oder nur in geringer Zahl wählen, dann werden Wahlergebnisse weniger repräsentativ für die Gesamtgesellschaft, Demokratien können daran sterben.

"Demokratie ist kein Sofa"
© Thomas M. Liehr, [tmlPic] | flickr.com

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