Befreier, Besatzer, Freunde

Bilder der Erinnerung

Jedes Jahr am 8. Mai wurde in der DDR der „Tag der Befreiung“ begangen. Es wurden Gedichte vorgetragen. Allen war feierlich zumute und es gab keinen Grund, am Heldenmut der Sowjetsoldaten zu zweifeln. Sie waren in der Fremde gefallen, um die Völker vom Faschismus zu befreien.

Jedes Jahr am 8. Mai wurde in der DDR der „Tag der Befreiung“ begangen. Obwohl der Tag seit 1968 nicht mehr arbeits- und schulfrei war, fiel der Unterricht teilweise aus. Angetan mit dem blauen Halstuch oder dem FDJ-Hemd zogen die Schulkinder zu einem der vielen Heldenfriedhöfe und Ehrenhaine der Sowjetarmee. In Berlin war der zentrale Ort des Gedenkens das Ehrenmal in Treptow.

Auf einem kreisrunden Hügel und einem Podest aus weißem Marmor stand dort die Bronzestatue eines Sowjetsoldaten. In der rechten Hand hielt er ein riesiges Schwert. Die langen Haare waren kühn zurückgeworfen, der Blick ins Unendliche gerichtet. Auf dem Arm trug er ein kleines Mädchen und unter seinem Stiefel lag ein zerbrochenes Hakenkreuz. Hier legten die Delegationen aus Schulen und Betrieben Blumen nieder. Jeder kannte die Geschichte von dem Sowjetsoldaten, der in den letzten Kriegstagen ein kleines Mädchen aus einem brennenden Haus gerettet hatte. Es wurden Gedichte vorgetragen, wie jenes von Johannes R. Becher in dem es hieß: „Es hat auch für dich geblutet, das Herz der Sowjetunion.“ Allen war feierlich zumute und es gab keinen Grund, am Heldenmut der Sowjetsoldaten zu zweifeln. Sie waren in der Fremde gefallen, um die Völker vom Faschismus zu befreien.

Ausstellung in der Landeszentrale
"Lebe wohl Deutschland"

Umgangssprachlich hießen sie einfach Russen, obwohl die Lehrer und manche Eltern uns verbesserten und darüber belehrten, dass man von Angehörigen der Völker der Sowjetunion oder Sowjetmenschen sprechen sollte. Dabei sagten gerade die älteren Leute auch Russen, wenn sie vom Krieg und der Nachkriegszeit erzählten. Sie sagten auch nicht Befreiung sondern erzählten von Plünderungen, Brandstiftungen, Vergewaltigungen und willkürlichen Verhaftungen. Wenn jemand von den Russen abgeholt wurde, war die Wiederkehr mehr als ungewiss.

Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer wurden verlegen, wenn man danach fragte. Natürlich hat es Übergriffe gegeben, räumten sie ein. Aber nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetheimat wäre das nur allzu verständlich gewesen und von den sowjetischen Sicherheitsorganen eingesperrt wurden ausschließlich ehemalige Nazis.

Doch das waren damals schon alte Geschichten. Viel seltsamer war es, dass die wirklichen Russen hinter den grünen Holzzäunen der Kasernen so ganz anders aussahen als der Bronzesoldat auf dem Marmorpodest in Berlin-Treptow. Sie trugen keine Schwerter und keinen kühnen Haarschopf sondern hatten fast kahl rasierte Köpfe, was ihnen ein kindliches Aussehen verlieh. Die khakibraunen Uniformen waren verwaschen und oft viel zu groß. Mit gehörigem Abstand und großen Augen blickten die Soldaten auf das Leben in Deutschland, das ihnen so sehr viel reicher und bunter vorkommen musste als ihr eigener Alltag.

Die Lebensumstände in den Kasernen waren mehr als erbärmlich. Die Soldaten wohnten in Schlafsälen mit bis zu hundert Mann, die Privatsphäre war faktisch ausgelöscht. Selbst die Briefe nach Hause schrieben sie unter Aufsicht. Hinzu kam ein harter Drill und strenge Strafen.

An die Soldaten und Offiziere der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), später Westgruppe genannt, wurden hohe Anforderungen gestellt. Sie waren in Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung die Elite der Roten Armee. In der Regel waren die Wehrpflichtigen zwei Jahre in Deutschland. Nach einem Jahr fuhren sie einen Monat auf Heimaturlaub. Dann folgte ein weiteres Jahr in der Fremde. Ausgang gab es für einfache Soldaten praktisch keinen. Nur gelegentlich machten sie einen Gruppenausflug in den Park von Sanssouci, ins Kapitulationsmuseum nach Berlin-Karlshorst oder zu den Stätten des Heldengedenkens wie den Seelower Höhen.

Kontakte mit der deutschen Bevölkerung waren unerwünscht. Das galt auch für die Offiziere, die meist länger in Deutschland waren. Sie lebten mit ihren Familien in abgeschotteten Wohnvierteln mit eigenen Kindergärten, Schulen, Geschäften und Kultureinrichtungen. Allen Freundschaftsbekundungen zum Trotz waren Treffen mit den Freunden, wie gesinnungstreue DDR-Bürger gerne sagten, nur sehr selten und wurden streng kontrolliert. Allerdings blühte am Rande der Kasernen und Russensiedlungen ein reger Tauschhandel. Dort wurde alles verkauft, was aus den Armeebeständen abzuzweigen war.

Buchcover: Roter Stern über Deutschland

Zum Weiterlesen
Roter Stern über Deutschland
Sowjetische Truppen in der DDR

Obwohl die Russen als Schrecken der Landstraße verrufen waren, taten sie den meisten Deutschen eher leid. Die jungen Burschen in ihren abgetragenen Uniformen wurden nicht für das politische System verantwortlich gemacht, für das sie an der Westgrenze ihres Imperiums auf Wacht standen. Dabei war es nur allzu klar, dass die Sowjetarmee nicht allein eine Verteidigungsaufgabe gegenüber der NATO hatte, sondern jederzeit als Ordnungsmacht im Inneren eingesetzt werden konnten.

Die DDR-Bevölkerung hatte es am 17. Juni 1953 erfahren, die Ungarn im Herbst 1956, die Tschechen am 21. August 1968, die Polen im Winter 1981. Jeder dieser Befreiungsversuche endete damit, dass Panzer sowjetischer Bauart durch die Städte rollten und jeden Widerstand erstickten. 

Doch 1989 hatte sich der Wind gedreht. Die Sowjetführung akzeptierte die Loslösung ihrer Satellitenstaaten. Ohne diese Rückendeckung aus Moskau wäre in der DDR weder die Friedliche Revolution noch die Wiedervereinigung möglich gewesen. So kam es, dass die russische Armee von der deutschen Bevölkerung nach fast einem halben Jahrhundert wenn nicht in Freundschaft so oder doch ohne Abneigung und Hass verabschiedet wurden.

Rund um die sowjetischen Ehrenhaine ist es heute still geworden. Und doch weiß jeder, dass die jungen Männer, die hier fern der Heimat ihr Leben ließen, auch für die Befreiung der Deutschen starben.


Dr. Stefan Wolle, Wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums Berlin, Februar 2014
Mitautor „Roter Stern über Deutschland“

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