Die kleine »größte DDR« aller Zeiten

Im Wendeherbst wollte keiner mehr dabei gewesen sein, als die Massen mit Winkelementen an ihren Führern vorbei gezogen sind. Doch bald trauerte man um Arbeitskollektiv und Subbotnik. Identität stifteten nicht Mauer und Stasi, sondern Ampelmännchen, Sandmann und Trabi.

Sandmännchen im Auto. Illustration: Anne Baier, ByeByeSea.com
© Anne Baier, ByeByeSea.com

Die Herrscher des DDR genannten Ländchens zwischen Rügener Nacktbadestrand und Thüringer Wald ergingen sich seinerzeit in einer permanenten Orgie der Selbstbeweihräucherung. Weil es sonst niemand tat, lobten sie sich dauernd selbst. Kaum eine Worthülse war zu pathetisch, kein historischer Vergleich zu weit hergeholt, kein Superlativ gewaltig genug.

»Größte Erfolge« reichten nicht aus. Es mussten die »allergrößten Erfolge« sein, möglichst »ständige weitere begeisternde, planmäßige und gesetzmäßige Erfolge unter der bewährten Führung …« und so weiter und so fort. Die Seifenblasenproduzenten merkten nicht mehr, dass der übermäßig gebrauchte Superlativ sich selbst aufhebt, denn sie hatten Viktor Klemperers »LTI« schlecht oder gar nicht gelesen. So stand irgendwann an einer Fabrikmauer in Berlin-Oberschöneweide: »Unser Ziel: Jedes Kollektiv erreicht den Ehrentitel »Beste Brigade« im sozialistischen Wettbewerb«. Die Untertanen reagierten auf diese agitatorische Daueranspannung mit sanftem Spott und nannten ihr Land ironisch die »größte DDR der Welt«.

Als im Wendeherbst diese beste aller Welten zu Grabe getragen wurde, waren die Jubelchöre wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen gab es Schmähungen ohne Ende und keiner wollte mehr dabei gewesen sein, als die Massen mit Winkelementen an ihren Führern vorbei gezogen sind. Doch bald schon taten sich Zeichen und Wunder. Eine Aureole des mildtätigen Vergessens senkte sich über den Katafalk des verblichenen Staatswesens. Man trauerte um das Arbeitskollektiv, das Brigadetagebuch und den Subbotnik. Lebendig geblieben waren nicht die bärtigen Klassiker des Marxismus-Leninismus sondern das Sandmännchen, Pittiplatsch und Schnatterinchen, die beliebten Figuren des Kinderfernsehens. Identität stifteten nicht die Mauer und die Stasi, sondern das Ampelmännchen und der Trabi.

Der Mauerstaat wurde zum Reich der menschlichen Wärme und sozialen Harmonie. »Die wahren Paradiese sind jene, die man verloren hat«, meinte Marcel Proust, in seinem Meisterwerk über die Suche nach der verlorenen Zeit. Jeder durfte sich so ein verlorenes Paradies aus alten Lebenslügen und neuen Ressentiments zusammenbasteln. Als die »größte DDR der Welt« starb, wurde die »kleine DDR« geboren.
 

Land der geheimen Orte

Natürlich gab es solche Fluchtburgen der Erinnerung in allen Regionen der ehemaligen DDR, doch zum festen Topos politischer Rhetorik wurde die »kleine DDR« in Brandenburg. Zunächst war der Begriff als Schmähung gedacht. Er tauchte erstmals 1996 im Vorfeld des Referendums über die Fusion von Berlin und Brandenburg auf. Westberliner Frontstadtnostalgiker versuchten mit der Parole Stimmung gegen die kleine Wiedervereinigung zu machen, wie die geplante Länderfusion auch genannt wurde. Westberlin drohe im »Roten Meer« zu versinken, wurde gewarnt. Zu Recht oder zu Unrecht behaupteten Vereinigungsgegner, in Brandenburg seien die alten SED-Seilschaften besonders aktiv und ihr oberster Schutzpatron wäre ein ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, Ministerpräsident Manfred Stolpe. Auch nach dem Scheitern der Fusion von Berlin und Brandenburg geisterte der hämisch und bösartig gemeinte Kampfbegriff »kleine DDR« durch die Medien.

Schließlich packte Stolpe den Stier bei den Hörnern und bekannte sich trotzig zu der Bezeichnung. Auf seiner Homepage schrieb er 2011 auf eine Anfrage hin:

Der Vorwurf ›kleine DDR Brandenburg‹ wurde dann im Landtag gegen die Regierung erhoben. Ich habe ihn nicht als Verleumdung zurückgewiesen, sondern erklärt, was in der DDR sinnvoll war, wollten wir behalten. Poliklinik, Kleinkinderbetreuung, Rechte der Frauen, Ganztagsschulen … Die Entwicklung gab uns recht und die Totalverteufelung der DDR hat zu einer geteilten Erinnerungskultur mit Tendenzen zur Glorifizierung der DDR geführt."

Welchen realen Kern hatte die Ansicht, Brandenburg sei eine mumifizierte DDR? Darüber ist viel gestritten worden. Tatsache ist, dass die Bezirke Potsdam und Frankfurt /Oder durch die Nähe zum geteilten Berlin von besonderer Bedeutung innerhalb der DDR waren. Entlang des westlichen Teils des Mauerringes, speziell in Potsdam, war die Trennung seit dem 13. August 1961 schmerzhafter und deutlicher sichtbar als in Ost-Berlin. Die alte Residenz mit ihren Parks und Schlössern war vom Zentrum der Hauptstadt der DDR aus nur auf einem Riesenumweg zu erreichen. Bereits seit 1958 umkreiste eine allein zu  diesem Zweck erbaute Bahnlinie, der so genannte »Sputnik«, die Westsektoren. Seit dem Mauerbau waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR auf diese zeitraubende Zugverbindung angewiesen. Vom neu erbauten Bahnhof Potsdam dauerte es dann noch mal eine gute Weile bis in die Innenstadt. Dort angekommen, stieß man schnell auf Straßen, die im Nichts endeten, auf Seen, in denen man wegen der Grenze weder baden noch segeln durfte, auf Stacheldraht und Wachtürme. Inmitten der Idylle des preußischen Arkadiens wirkten diese Bauwerke wie ewig schwärende Wunden.

Zudem war die gesamte Umgebung Berlins mit Institutionen und Bauwerken der staatlichen und militärischen Macht vollgestellt. Das begann mit dem Luxusghetto Wandlitz, setzte sich fort über den Ring von geheimen Bunkern, dem Dienstsitz des Ministeriums für Nationale Verteidigung in Strausberg, dem Hauptquartier der Sowjetischen Streitsiekräfte in Wünsdorf, dem Standort der Bereitschaftspolizei in Basdorf, der Pionierrepublik »Wilhelm Pieck«, den Bildungseinrichtungen der Massenorganisationen, wie die FDJ-Hochschule am Bogensee und so weiter. Wo man unterwegs war, tauchten Maschendrahtzäune, Sperren, Betonmauern und Verbotsschilder auf.

Heute ist Brandenburg das Eldorado einer neuen Gattung von Scouts, die verlassene Orte suchen, um dort einzudringen, Fotos zu machen und Erinnerungsstücke mitgehen zu lassen. Es gibt eine regelrechte Szene der Entdecker von lost places, die im Internet einen fleißigen Austausch pflegt. Auf der Suche nach den Überresten der kleinen »größten DDR der Welt« durchstreifen unermüdliche Suchtrupps die größte »kleine DDR des Universums«.


Die Aufarbeitung der Aufarbeitung

Auch der Brandenburger Landtag begab sich 2012 auf die Suche nach der Vergangenheit, genauer gesagt, auf die Suche nach dem Umgang mit der Vergangenheit seit 1990. Eine Enquete-Kommission sollte Erfolge und Defizite der Aufarbeitung feststellen und Handlungsempfehlungen für die Zukunft aussprechen. So wurde eine Kommission mit einem wahrhaft barocken Titel aus der Taufe gehoben. »Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg« nannte sich das anspruchsvolle Unternehmen.

An der sperrigen Formulierung wurde offenbar von verschiedenen Seiten so lange gezerrt bis sie sprachlich völlig verkantet war. Der unhandliche Name war in der Tat ein böses Omen. Die eigentliche Absicht der Opposition aus CDU, FDP und Grünen war nur allzu offensichtlich. Sie wollten die Regierungskoalition aus SPD und Linkspartei in die Enge treiben und der SPD eine inhaltliche Nähe zur SED-Nachfolgepartei unter die Nase reiben. Noch einmal sollten die halbherzige Stasi-Aufarbeitung, das Fehlen eines Stasi-Beauftragten und andere Versäumnisse der Nachwendejahre durch den Fleischwolf öffentlicher Debatten gedreht werden.

Der Brandenburger Weg, der von seinen Initiatoren als ein Weg der Toleranz und des Respektes proklamiert worden war, wurde von den Oppositionsparteien und Teilen der Öffentlichkeit als der große Teppich angesehen, unter den viel gekehrt worden war. Natürlich sprach diese Absicht in der Enquetekommission niemand offen aus. Doch die parlamentarische Opposition hackte in jede Wunde, die sich ihr darbot – und das waren nicht wenige. Gutachter wurde öffentlich diskreditiert, Sachverständige schmissen empört ihr Mandat hin, Abgeordnete überhäuften einander mit Vorwürfen.

Parteiengezänk ist ein gefährliches Wort, ist doch Demokratie dem Wesen nach Streit der Parteien. Doch oft fiel mir als Beobachter der Potsdamer Debatten kein besseres Wort ein. Es stellte sich die Frage, ob die Legislative der rechte Ort ist, über die Geschichte zu befinden. Doch immerhin gab es zum Schluss einige konkrete Handlungsempfehlungen für den Landtag. So sollte die Betreuung der Opfer der SED-Herrschaft verbessert, die finanzielle Unterstützung der Opferverbände erhöht und die Erforschung des Repressionsapparates intensiviert werden. Auch auf die Darstellung der DDR in den Museen wurde das Augenmerk gerichtet. Dieses Thema zu bearbeiten, wurde mir angetragen und im Winter 2012 machte ich mich auf den Weg, um kreuz und quer durch Brandenburg zu reisen und mir Museen anzuschauen.


Im Museum der unerfüllten Träume

Zunächst dominierte eine gewisse Unlust, als ich den durchaus ehrenvollen Auftrag übernahm. Zum einen war die Aufgabe für einen Einzelnen in so kurzer Zeit kaum zu bewältigen. 423 Museen gab es zu diesem Zeitpunkt in Brandenburg. Darunter befanden sich 34 Heimatmuseen im Sinne des Gutachtens sowie 6 Regionalmuseen und 23 Stadtmuseen. Hinzu kamen 22 Industrie- und Technikmuseen, 16 Spezialmuseen sowie Mühlenmuseen, Naturkundemuseen, Landwirtschaftsmuseen und vieles andere mehr. Vor allem aber befürchtete ich Schreckliches – nämlich angestaubte DDR-Ecken mit einem FDJ-Hemd, einer Fanfare und einer Trommel, dazu noch etwas Flachware, wie man im Museologenjargon sagt, also Plakate, Bilder und Faksimiles von Dokumenten. Tatsächlich gab es in einigen Heimatstuben und Stadtmuseen solche eilfertig zusammen gestellten Vitrinen. Irgendwie musste neben den Faustkeilen der Steinzeit, der heimischen Vogelwelt und irdenen Backformen auch noch die Gegenwart zu Wort kommen.

Doch dies war keineswegs typisch. Im Gegenteil – die Museumsleute hatten sich tapfer abgearbeitet an dem eigentlichen Grundproblem der Darstellung der DDR. Wie bringt man die Lebenswirklichkeit der Menschen und das politische System unter einen Hut? Dies ist nirgendwo so schwierig wie in der musealen Präsentation. In einem Buch kann man diese Dialektik von Alltag und Diktatur theoretisch entwickeln und an vielen Beispielen ausführen. Doch das Museum lebt von Gegenständen, nicht von Flachware im oben genannten Sinne oder gar von didaktischen Kommentaren. Es ist wohl wahr wenn der Dichter sagt, »es schläft ein Lied in allen Dingen / die da träumen fort und fort / und die Welt fängt an zu singen / triffst du nur das Zauberwort.« Doch für jeden ist es ein anderes Lied und jeder träumt auf seine Weise.

Den Besucherinnen und Besuchern, sofern sie in der DDR aufgewachsen sind, geht das Herz auf, wenn sie Omas Kaffeemühle erblicken, die Eierbecher ihrer Kindheit oder ein Glas Gewürzgurken, das heute als Ostprodukt angeboten wird und damals so schwer zu bekommen war. Selbst ein Pionierhalstuch, die erste Fibel mit den vielen roten Mainelken oder der Stahlhelm der NVA erwecken nicht automatisch Abscheu, obwohl sie von einer durchgängig formierten und ideologisch indoktrinierten Gesellschaft erzählen. Zugespitzt gefragt: Wie bringt man Pittiplatsch und den Stasi-Knast nicht nur auf eine Formel, sondern in ein Museum?

Der Mensch hat die wunderbare Eigenschaft, Erniedrigungen und Peinlichkeiten in der Erinnerung zu lustigen Streichen umzuformen. Vergessen ist nicht das Gegenteil sondern eine Form der Erinnerung. Im Museum spielt sich  gewissermaßen entlang der Objekte nichts anderes ab, als bei anderen Formen der Erinnerungen, in Filmen, Dokumentationen, Büchern. So geht jeder durch sein eigenes Museum der gescheiterten oder erfüllten Träume.

Inzwischen verstaubt das Gutachten der Kommission – wenn die altmodische Formulierung angesichts der digitalen Speicherung noch angebracht ist – bis eines Tages die Aufarbeitung der Aufarbeitung der Aufarbeitung gestartet wird. Die Suche nach der Vergangenheit aber geht weiter, sei es mit dem Metalldetektor in den Wäldern rund um Berlin, in Museen oder Archiven. Sei es auf dem »Brandenburger Weg« der differenzierten Auseinandersetzung oder mit jenem Ekel, von dem Wladimir Nabokov einst sagte, er habe es gelernt, ihn wie einen Schatz zu hüten. Am Ende finden wir immer nur uns selbst.

Die kleine DDR bleibt im Rückblick die größte aller Zeiten solange es Menschen gibt, die sich an ihren virtuellen und realen Mauern wund gestoßen haben, deren Träume dort gescheitert sind und die sie schließlich friedlich überwunden haben.

Stefan Wolle
Aus: Das Brandenbuch. Ein Land in Stichworten. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 3. Auflage, Potsdam 2020

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