Warum rebellieren Menschen?

Hinweise zur Vorgeschichte des 17. Juni 1953

Menschen scheinen eher zu leiden als sich zu wehren - jedenfalls soweit es um gemeinsame Aktionen geht. Dass Menschen kollektiv den Aufstand wagen, ist eher selten. Wann sie es doch tun, hat der Historiker Falco Werkentin für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 untersucht.

Ausschnitt aus der Graphic Novel "17. Juni. Die Geschichte von Armin und Eva"
Ausschnitt aus der Graphic Novel 17. Juni. Die Geschichte von Armin und Eva

Warum empören sich Menschen, wann wehren sie sich - nicht der Einzelne, sondern gemeinsam? Der Historiker Falco Werkentin hat diese Fragen aufgegriffen und für den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 nach Antworten gesucht. Wir zitieren nachfolgend Auszüge aus seinem Beitrag:

Die Leidensfähigkeit der Menschen scheint weitaus größer zu sein als ihre Bereitschaft oder Fähigkeit, gegen Ungerechtigkeit und Leid zu rebellieren - jedenfalls, soweit es um Rebellion in gemeinsamen Aktionen geht. Dass Menschen kollektiv rebellieren, den Aufstand wagen, ist eher selten.

Lesetipp

Die „Frankfurter Rundschau“ berichtete im Juni 2003 im Wirtschaftsteil über die Bedingungen, unter denen heute in Vietnam und anderen Ländern der Dritten Welt Turnschuhe für PUMA, ADIDAS und andere Weltfirmen hergestellt werden. Dem Bericht nach erhalten die dortigen Fabrikanten pro Paar ca. 50 Cent, während die Schuhe für ca. 50 Euro und mehr verkauft werden. Man wagt da kaum noch zu fragen, was die Näherinnen in Vietnam oder Burma verdienen, die die Schuhe zusammenkleben und - nähen. Es muss zwar offensichtlich ausreichen, um nicht zu verhungern, denn es wäre unökonomisch, alle 14 Tage neue Leute an den Maschinen anzulernen, weil die Belegschaft zuvor an Entkräftung gestorben ist -- aber warum rebellieren die Menschen nicht angesichts dieser unglaublichen Ausbeutung?

Why man rebell? - also „Warum rebellieren Menschen? war Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ein großes Thema in den amerikanischen Sozialwissenschaften und der Titel eines 1970 erschienenen Buches von Ted Robert Gurr.* Gurr wollte nicht den 17. Juni 1953 in der DDR erklären. Vielmehr hatte die US-amerikanische Regierung Ende der 60er Jahre Millionen über Millonen Dollar an Forschungsgeldern zur Verfügung gestellt, weil man wissen wollte, wieso die Farbigen in den amerikanischen Ghettos plötzlich den Aufstand gegen Lebensbedingungen führten, die sie über ein Jahrhundert und mehr weitgehend widerstandslos hingenommen hatten. Man mag über Gurrs Erklärungen streiten - doch seine Fragestellung ist interessant und richtig.

Es müssen offenbar jeweils bestimmte Bedingungen sich zusammenfügen, bis Menschen gemeinsam gegen unerträgliche Lebensbedingungen kämpfen. Not, Elend und Unterdrückung allein sind jedenfalls keine ausreichenden Bedingungen, um Menschen zur kollektiven Rebellion zu bewegen.

Im Juni 1953 gab es in der DDR eine solche historische Situation. Was trieb Menschen in Brandenburg und Calbe, in Potsdam und Berlin, in Jessen/Elster oder Genthin dazu, in den Tagen um den 17. Juni zu streiken und zu demonstrieren? Was veranlasste sie, Gefängnisse zu stürmen; in Gebäude der SED und des FDGB einzudringen und die Einrichtungen zu zertrümmern? Was motivierte sie, SED-Funktionäre, Richter und Staatsanwälte zu verprügeln? Warum wurden an vielen Orten gerade die Läden der „HO“ geplündert - und nicht die von Privateigentümern? Warum wurden in Ost-Berlin die Baracken des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs an den Sektorengrenzen angezündet? (...)

Es waren vor allem folgende Bedingungen, die die plötzliche Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung hervorriefen: 

  1. Die Partei hatte den Fehler gemacht, nahezu der gesamten Bevölkerung den sozialen Krieg zu erklären, statt sich nach und nach einzelne soziale Schichten vorzunehmen.
  1. Daraus hat die SED in der weiteren Politik Konsequenzen gezogen. 1960 wurde der Angriff nur gegen den bäuerlichen Familienbetrieb geführt - dort, wo Genossen vor Ort im revolutionären Eifer begannen, auch gleich kleine private Läden und Betriebe zu kollektivieren, wurden sie zurückgepfiffen.
     
  2. Die Bevölkerung hatte - gerade auch aufgrund ihres Fleißes und Aufbauwillens - nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit seit 1949/50 eine langsame, aber spürbare Verbesserung ihrer Lebenslage erlebt. Hungern musste niemand mehr, das Warenangebot wuchs, Preise für Waren des alltaglichen Verbrauchs waren gesenkt worden. Doch plötzlich verschlechterte sich die Lebenslage wieder rapide.
     
  3. Die Partei hatte in den Monaten nach der 2. Parteikonferenz ein herrschaftstechnisch schlecht kalkuliertes Übermaß an Repression betrieben, so dass die Instrumente der Sicherung der SED-Herrschaft die Gefährdung der Herrschaft mit verursacht hatten.
     
  4. Mit dem „Neuen Kurs“ hatte die Partei eine zu große und zu plötzliche Wende angemeldet, die von der Bevölkerung zu Recht als Zeichen der Schwäche gewertet wurde. Dies ist aber eine der in der historischen Konfliktforschung immer wieder auftauchende Konstellation. Menschen rebellieren nicht auf den Höhepunkten von Unterdrückung und Repression, sondern wenn das Herrschaftssystem plötzlich nachgibt, deutliche Schwächen zeigt. Deshalb waren Herrnstadts Einwände dagegen, die Zugeständnisse des so genannten Neuen Kurses „auf einen Schlag“ zu verkünden, herrschaftstechnisch durchaus klug. Herrnstadt, zu diesem Zeitpunkt der bessere Technokrat in Sachen Herrschaftssicherung als Ulbricht und die sowjetischen Freunde, wollte die Linienänderungen häppchenweise, über 14 Tage verteilt, der Bevölkerung mitteilen. Er konnte sich nicht durchsetzen.
     
  5. Schließlich - der Auslöser für den 17. Juni - die Streiks gegen die diktierte Normerhöhung. Mit dem „Neuen Kurs“ hatte die SED allen bisher drangsalierten Bevölkerungsgruppen Verbesserungen versprochen. Nur die soziale Klasse, als deren Avantgardepartei die SED sich ausgab - die Arbeiter - sollten weiterhin die angekündigten Lohnkürzungen akzeptieren, wie noch in der „Tribüne“, dem Blatt des so genannten Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, am Morgen des 16. Juni zu lesen war. Das brachte das Fass zum Überlaufen.



Auszug aus Falco Werkentin, Warum rebellieren Menschen? in "Das Jahr 1953. Ereignisse und Auswirkungen" Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2004. Das Buch kann hier heruntergeladen werden.

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