Die Katharsis des Johannes Lepsius 1915

Vortrag

1896, während der hamidischen Massaker an den Armeniern, befand sich Johannes Lepsius in Opposition zur Orientpolitik des
Deutschen Reichs. Dennoch glaubte er, besonders nach dem Einsetzen einer aktiven deutschen Orientpolitik um die Jahrhundertwende ein Zeit lang, ein »ethischer« Imperialismus, der sich in Einklang mit seinen eigenen missionarischen Konzepten befand, könnte zu einem Modell werden für eine mögliche Verbindung von moralischen Imperativen und Realpolitik, besonders in der armenischen Frage.

Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt während der Verhandlungen zu den armenischen Reformen 1913 schien ihm dabei Recht zu geben. Wie fast jeder gebildete Protestant seiner Tage sah er in Luthers Deutschland ein Land mit exzeptioneller Bestimmung. Der Beginn des Völkermords an den Armeniern im Frühjahr 1915 führte bei ihm jedoch zu einer Katharsis, die ihn an diesem Exzeptionalismus zweifeln ließ. Der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau, der Lepsius als »edel gesinnten christlichen Gentleman« empfand, bemerkte Ende Juli 1915 in Istanbul bei ihm eine tiefe Irritation über seine eigene Regierung, die sich offensichtlich nicht in der Lage sah, wirksam gegen die mittlerweile mit aller Macht vor sich gehende Vernichtung der osmanischen Armenier vorzugehen.

Alle Fragen, die sich auf die Situation der osmanischen Armenier bezögen, sagte er zu dieser Zeit in Sofia zu einem erstaunten armenischen Freund, seien aus heutiger Sicht letztlich nur noch »mit revolutionären Mitteln zu lösen«. Vor allem würde aber das Verschweigen der Verbrechen am armenischen Volk, das ihm das Auswärtige Amt zumuten wollte, zu einem moralischen Desaster von langer Dauer führen, auch unter den Deutschen, die sich im Krieg ohnehin weit von ihren christlichen Werten entfernt hatten.


Dr. Rolf Hosfeld ist Direktor und wissenschaftlicher Leiter des Lepsiushauses Potsdam.

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