
Täter: Karlchen, 16
Tat: Diebstahl, Raub, schwere Körperverletzung
Alter zur Tatzeit: 9 bis 16 Jahre
Urteil: Zwei Jahre und sechs Monate Jugendhaft
Haftanstalt: Justizvollzugsanstalt Oranienburg
Karlchen ist sechzehn und sieht aus wie zwölf. Seit zwei Jahren sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Oranienburg. An seine Kindheit hat er nur knappe Erinnerungen. Einmal war er mit seinen Eltern im Urlaub. Er weiß nicht mehr genau, wo das war. Nur dass er einem Clown begegnete, weiß er noch und dass er sich wunderte, wo Clowns überhaupt leben. Er selbst möchte kein Clown sein, obwohl der ihm damals mächtig imponiert hat. Aber immer nur lustig zu sein, selbst, wenn man miese Laune hatte, sei ihm zu viel Stress.
Seine Mutter arbeitete in der Ziegelfabrik in Zehdenick. Sein Vater, der früh starb, war Zimmermann. Manchmal brachte der Junge ihm Essen auf den Bau. Dann sah er ihm bei der Arbeit zu und bewunderte seine Geschicklichkeit. Seit der Wende ist seine Mutter arbeitslos. Mit dem großen Bruder hat Karlchen kaum Kontakt. Aber darüber will er sich nicht weiter auslassen. Mit der Schwester, die am liebsten Polizistin werden will, geht es ganz gut.
Im Jahr der Einheit wurde er eingeschult. Schon bald begann er zu schwänzen. Gelegentlich kamen Anrufe von der Schule, aber bald versickerten sie wieder. Seine Mutter schimpfte mit ihm.
Von da an verließ der Junge morgens das Haus. Aber nicht, um zur Schule zu gehen, sondern um sich an irgendeiner Ecke mit ein paar Gleichgesinnten zu treffen. Ihr sportliches Ziel war es, die Regale der Supermärkte möglichst unbemerkt zu erleichtern.
Beim ersten Mal klappte es unerwartet reibungslos. Karlchen: „Die sind doch alle saublöd da. Wenn die eenmal nischt merken, merken die nie wat.“
Von nun an wurde er waghalsiger und spezialisierte sich auf Alleingänge. Und dann passierte, was passieren musste, er wurde von einem Ladendetektiv geschnappt. Die Polizei wurde geholt und brachte das Kerlchen nach Hause. Es setzte Schelte und Ohrfeigen.
Karlchen hatte nicht vor, sich zu ändern. Er nahm sich allerdings vor: „Das nächste Mal kriegen sie mich nicht.“ Er wurde aufmerksamer und schneller. Erbeutete einmal fünf Mark und das nächste Mal zweihundert. Es läpperte sich zusammen. Für einen Zehnjährigen „verdiente“ er nicht schlecht. Seine Eltern waren mit ihrem Jüngsten überfordert.
Unentwegt hatte er mit der Polizei zu tun. Er ließ sich nichts sagen, wusste alles besser, wurde pampig und haute immer wieder von zu Hause ab. Die Mutter meinte, er sei krank, „klaukrank“ gewissermaßen. Sie suchte psychologische Hilfe, und Karlchen wurde in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen.Die Neurologen fanden keine Hinweise auf Kleptomanie oder sonstige hirnorganische Störungen.
Wieder zu Hause, kam er in eine Förderschule und wurde in ein Heim eingewiesen. Mit vierzehn war er wieder bei seinen Eltern, gewiefter und rigoroser als zuvor. Er traute sich jetzt viel mehr zu, suchte den Zweikampf, wenn er seine Chancen als gut einschätzte.
Seine Lebensregel lautete: „Mit Arbeit kommste zu nichts. Deshalb mach dir selbstständig und trage Risiko. Dann biste bald Millionär.“ Von da an nahm er sich, was er wollte.
Einmal packte er einen Jungen am Hals, drückte seinen Kopf nach oben, entriss ihm den Cityroller und schubste ihn in die Sträucher. Die Eltern des Jungen zeigten ihn an und unter Anrechung seiner zahllosen Diebstähle wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt.
In der Urteilsbegründung heißt es: Unter Schuldgesichtspunkten hat das Gericht das Geständnis des Angeklagten mildernd berücksichtigt. Gegen den Angeklagten sprach, dass er durch seine Serie von Straftaten nachhaltig gegen das Gesetz verstoßen hat. Unter Abwägung aller Umstände ist eine Jugendstrafe angemessen. Die Strafe wurde auf zwei Jahre und drei Monate festgesetzt.
Karlchen kam in das triste Oranienburger Gefängnis. Die ersten Monate stand er dort gewissermaßen unter Naturschutz. Sein kindlicher Habitus erweckte bei den Älteren eine Art Beschützerinstinkt. Alsbald nutzte Karlchen diesen Betreuerbonus aus. Er verlangte von seinen Zellengenossen Unterordnung, beanspruchte für sich den Chefstatus. Lehnte sich ein anderer dagegen auf, griff Karlchen zu Strafen. Er sprang mit Schuhen auf dem Bettzeug des anderen herum, beschmutzte seine Wäsche, beschmierte seine Sachen mit stinkendem Käse.
Mit der Zeit verlor er den Nimbus des kindlichen Charmeurs und Schutzbedürftigen. Sein Zusammenleben mit anderen Gefangenen wurde zunehmend schwieriger. Es gibt inzwischen viele Jungs, die es als Haftverschärfung ansehen, mit ihm auf einer Zelle zu sein.
Kürzlich schlug Karlchen einen anderen Jungen, der ihm Tabak schuldete, auf dem Gefängnisflur krankenhausreif. Als Mahnungen nichts nutzten, passte er ihn ab und trat ihm mit ausgesucht derben Schuhen in den Unterleib. Um so kräftiger, je mehr der Andere vor Schmerzen jammerte.Gleich nach seiner Entlassung zeigte ihn der Junge an. Das ärztliche Attest bescheinigte ihm Hämatome am Unterleib und Verletzungen an den Hoden. In der Verhandlung bekam Karlchen noch drei Monate auf sein bisheriges Strafmaß draufgeschlagen.
Karlchens Mutter, sein Stiefvater und seine Schwester besuchen ihn regelmäßig im Knast. Er freut sich jedes Mal, wenn sie kommen. Seine Mutter sieht der Zukunft mit Sorgen entgegen. „Er ist ja kein schlechter Junge“, sagt sie. „Aber ich hab nie viel Hoffnung mit ihm gehabt, und bis jetzt hab ich die nicht. Er hat sich ja kaum geändert.“
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