Bis Januar 1945 lebten wir in Kattowitz in Oberschlesien. Dann aber sollten meine Mutter, meine ältere Schwester und ich uns in Sicherheit bringen und flohen vor der näher rückenden russischen Armee nach Potsdam zu meiner Großmutter. Nur mein Vater blieb noch dort. In der Zeit gab es schon monatelang fast täglich Alarm in Kattowitz, manchmal auch Bombenangriffe.
Aber so schlimm war das nicht, ich hing nicht sehr an Spielsachen, Bücher waren mir wichtiger. Meine elf Puppen habe ich aber sehr geliebt! Bei den Bombenangriffen auf Kattowitz zog ich sie immer erst an, ehe ich bereit war, in den Keller zu gehen, natürlich nur gemeinsam mit meinen Puppen. Sie waren doch meine Spielkameraden.
Am 18. Januar 1945 stiegen wir in den letzten Zug, der in Richtung Westen fuhr. Es war alles sehr chaotisch und der Zug völlig überfüllt. Mein Vater winkte zum Abschied, dadurch merkte er, dass ich noch neben ihm stand. Er hob mich dann durchs Zugfenster ins Abteil, ich war ja klein und dünn und wog mit meinen 8 Jahren nur 15 Kilo.
So verließen wir unsere Heimat. Unser Vater schrieb uns täglich, er hoffte, bald nachkommen zu können. Aber erst Monate später haben wir uns in Potsdam wiedergesehen.
Meine Mutter war eine sehr fromme Frau. An ihrer Hand konnten mir Bombenangriffe und Artilleriefeuer, Leid und Tod nichts anhaben. Sie strahlte Sicherheit, Zuversicht und Güte aus. Ich war ein sehr fröhliches Kind, obwohl Krieg war. Wie sehr unsere Eltern uns vertrauten, ist mir erst später bewusst geworden.
Meine Eltern wollten nicht, dass wir mit „Heil Hitler“ grüßen. Also brachte Vater uns bei: „Ihr müsst 'Heitler‘ sagen.“ Ich wusste nicht, wer 'Heitler‘ ist, aber ich hab meinem Vater vertraut und immer nur 'Heitler‘ gesagt. In der 2. Klasse hatten wir eine Lehrerin, Fräulein Scholle, die sagte zu uns: „Wenn Eure Eltern Londoner Rundfunk hören, dann müsst ihr mir das sagen, damit wir sie vom bösen Weg abbringen, denn das will der Führer nicht.“
Einmal konnte ich nachts nicht schlafen und sah Licht im Wohnzimmer und ging hinein zu meinen Eltern. Da hörte ich dieses typische Erkennungszeichen von BBC. Ich stand in der Tür und mein Vater wurde kreideweiß als er mich sah. Dann nahm er mich auf den Schoß und sagte zu mir: „Nun bist du groß. Das darfst du niemandem erzählen, sonst sind morgen deine lieben Eltern und deine Schwester tot.“ Ich hab mich natürlich daran gehalten. Aber ich hab auch schrecklich gelitten, dass ich meiner Freundin nichts erzählen durfte, denn ich hab doch so gerne meine Erlebnisse weitererzählt.
In dieser Nacht schwanke das Haus während des Angriffs wie ein Schiff auf hoher See. Dann kam der Rauch wie Nebel und man konnte nichts mehr sehen. Wir hatten Glück, weil unser Haus nicht getroffen wurde.
Noch in der Nacht liefen meine Mutter, meine Großmutter und meine Tante zu dem Kinderheim gegenüber vom Obelisk, das schwer zerstört war.
Meine Mutter wollte helfen und ich stand auf der Straße und wartete auf sie. Da traf mich Pfarrer Schröder von der Frauenhilfe. Der nahm mich mit zur Garnisonkirche. Ich mochte den Barockbau sehr und nun schlugen Flammen aus dem Turm.
Die Menschen versuchten zu löschen, aber es war kein Wasser da, keine Schläuche, keine Feuerwehr. Den Anblick der brennenden Garnisonkirche werde ich nie vergessen! Als wir zurückkamen, war meine Mutter ganz aufgeregt, nie hatte sie uns von den Händen gelassen, nur in dieser Nacht, um den Kindern im Heim zu helfen. Aber Hilfe war nicht mehr möglich, das Haus war zerstört und meine Mutter erzählte später von den grausam verstümmelten Kinderleichen.
Nach dem Bombenangriff hatte meine Mutter Leute auf der Straße aufgelesen, die alles verloren hatten und dastanden mit nichts. Sie gab vielen eine Unterkunft in unserem Haus, legte Matratzen aus und organisierte generalstabsmäßig den Tagesablauf, das Essen und Schlafen für die vielen Menschen.
Dann wurde Potsdam von den russischen Tieffliegern beschossen. Wir lernten, uns bei Beschuß flach auf den Boden zu legen. Den Reflex hab ich bis heute in mir. Das war auch die Zeit, in der Lebensmittel knapp wurden und wir alle ständig auf der Suche nach Essen waren. Ich war gut zu gebrauchen zum Anstellen und Einkaufen bei Bäcker Bachmann, Kaufmann Leopold, Fleischer Zachert. Auch Wasser mussten wir holen und lange mit unseren Eimern an den Pumpen anstehen, denn die Leitungen waren durch den Angriff zerstört.
Ich konnte stundenlang anstehen, das hat mir nichts ausgemacht. An einem Tag sprach sich herum, dass in der Lindenstraße Käse aus Lagerbeständen der Wehrmacht verkauft würde und ich wurde losgeschickt. Genau an dem Tag kamen Tiefflieger und schossen in die Straße hinein. Links und rechts von mir fielen die Leute um, bewegten sich nicht mehr, bluteten, waren tot. Auch ich hatte mich hingeworfen, stand dann wieder auf, hab den Käse gekauft und kam mit dem Paket unversehrt nach Hause. Natürlich hatte ich einen furchtbaren Schreck bekommen und erzählte von meinen Erlebnissen. Meine Mutter dankte Gott, dass ich alles heil überstanden hatte.
Viele Menschen brachten sich damals aus Angst vor den herannahenden Russen auch um. Ich sehe noch das Bild vor mir, wie aus dem Haus gegenüber die Toten heraus getragen wurden.
In der Zeit lebten wir fast nur noch im Keller. Meine Großmutter hatte ihr Chippendale-Sofa, wir unsere Matratzen auf den Kartoffelkiepen und Kohlenkisten. In der Wohnung lag Putz, die Scheiben waren durch die Druckwellen alle kaputt und die Fenster nur mit den Läden zu schließen oder mit Pappe vernagelt. Manchmal schlichen wir nach oben aufs Klo. Meine Mutter hat es aber geschafft, zwischen den Artillerieangriffen noch einen Kuchen zu backen, so dass wir den 12. Geburtstag meiner Schwester Inge am 27. April mit Kaffee und Kuchen gefeiert haben.
Dann kamen die Russen. Wir saßen im Keller und sie haben sich mit einer Kerze umgesehen. Einer näherte sich meiner Mutter und ich dachte, er wollte sie töten. Ich bin auf ihn gesprungen und hab gebrüllt, ihn mit meinen Fäusten bearbeitet und an den Haaren gezogen. Irgendwann ließ der Soldat von ihr ab. Später badete meine Mutter dann in Sakrotan. Das weiß ich so genau, weil das so eine hübsche Sitzbadewanne war und ich auch so gerne da hinein wollte. Ob die Russen meine Mutter und meine Tante vergewaltigt haben, kann ich nicht sagen. Sie haben nie darüber gesprochen. Danach haben die Frauen ihre Sachen übereinander gezogen, sich hinter ihre Kleidung verbarrikadiert und Kopftücher umgebunden, um nicht aufzufallen.
Unsere Wohnung wurde dann kurz zur Umkleidestelle für Ukrainer. Beinahe hätte ich meine Puppe Gretchen doch noch verloren. Die ehemaligen Zwangsarbeiter zogen sich bei uns um, bevor sie wegfuhren. Mit ihnen verschwand auch meine Puppe. Da nahm mich meine Mutter an die Hand, ist zu dem LKW gelaufen und hat mit den Ukrainern verhandelt. Ich hab geweint und bekam dann mein geliebtes Gretchen wieder.
Ich hatte keine Angst vor den Russen, im Gegenteil. Oft bin ich zu ihnen gegangen und habe mit großem Selbstverständnis Brot und Zucker verlangt und immer bekommen. In der Zeit entwickelte ich einen richtigen Hamstertick, das hat mir Spaß gemacht. Noch jahrzehntelang hab ich diese Hamsterei beibehalten.
Meine Kindheit erlebte ich in der zerstörten Innenstadt von Potsdam. Dort hab ich viel gespielt. Die zerbombten Häuser waren ein einziger großer Spielplatz für mich. Ich hab mir Höhlen gebaut und einen ganzen Haushalt aus den Trümmern zusammengesucht. Meine Freundin Marina und ich kletterten auch durch die kaputten Häuser, in denen es nicht einmal mehr eine Treppe gab. Zum Glück wussten davon weder meine Mutter noch meine Großmutter.
Für meine Mutter bedeutete das Ende des Krieges der Zusammenbruch all unserer Werte. Sie sagte immer: „Gott hat unser Volk bestraft.“ Sie hasste die Russen nicht, aber Unzivilisiertheit hat sie verachtet. Für sie waren die Russen Barbaren. Später arbeitete meine Mutter im Lebensmitteldepot bei den Russen (Magazinen) und bekam dort Essensreste und manchmal ein paar Lebensmittel.
Nach dem Kriegsende haben die Menschen sofort angefangen, die Trümmer zu beseitigen. Meine Mutter sagte immer: „Das können wir doch nicht so rumliegen lassen, da müssen wir aufräumen.“
Kattowitz, den 19.1.45
Mein allerliebster Mimi!
Obgleich ich morgen vor habe nach Potsdam zu fahren, möchte ich doch noch an Dich schreiben und Dir zumindest sagen, wie lieb ich Dich habe. Wir hatten uns in der Aufregung gar nicht auf dem Bahnhof verabschiedet, es ging ja auch alles sehr schnell. In dieser so ereignisreichen Zeit ist es mir doch eine große Beruhigung, Dich mit den Kindern in Sicherheit zu wissen. Hier wäre es für Dich nicht mehr schön, dauernd die Gerüchte, wo der Russe schon sei, der fahrplanmäßige Eisenbahnverkehr ist zusammengebrochen, man muß sich auf den Bahnhof setzen und warten, bis ein Zug aufgerufen wird.
Die Strecke nach Breslau ist verstopft, z.T. durch Eisenbahnunglücksfälle. Niegels, die erst heute Nachmittag fahren wollten, kamen wieder mit ihrem Gepäck zurück, weil sie den Strapazen nicht gewachsen waren. Morgen will ich die Abmeldungen der Lebensmittelkarten besorgen, Milchmarken sind bereits umgetauscht. Verpflegung stockt hier, kein Brot u. Fleisch, hoffentlich ist es nur ein vorübergehender Zustand.
Kattowitz wird stark bewacht. Vor R. liegt der Volkssturm, z.T. stehen auf den Straßen Panzer zum Eingreifen bereit. Der Volkssturm hatte bei H. bereits Feindberührung und Verluste. Alarme haben wir täglich mehrmals, beachten ihn aber wenig. Der Führer war heute hier. Deutsche Flieger sind auch eine Menge da.
Die beiden Kartoffelkarten bringe ich mit, ebenso Sachen für Euch in den Koffern. Nur gut, daß ich gesund bin und alle die Belastung, ich glaube von allen meinen Kollegen am besten überstehe. Die Schule wird nach Görlitz verlegt, heute war letzter Schultag, die anderen Semester haben ihre Ingenieurszeugnisse empfangen. Dr. Soppel hat mir Ausweise mitgegeben, dass ich nach Berlin kann, hoffentlich klappt es auch, die Fahrkarte habe ich schon.
Jedenfalls möchte ich Dir in dieser so ernsten Zeit nochmals von Herzen danken für alles Liebe, Schöne u. vor allem für die Bereicherung meines Lebens, die mir Deine Liebe bereitet hat. Ich danke Dir für die beiden Kinder, die Du mir geschenkt hast und hoffentlich gelingt es uns, gemeinsam sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen. Behalte mich auch weiterhin immer recht lieb, so wie Du auch meiner Liebe stets gewiß sein wirst.
Vielleicht bekomme ich morgen schon Post von Dir, die mir hoffentlich Eure gute Ankunft in P. meldet. Sicherlich wird sich der Koffer gefunden haben.
Grüße bitte die Kinder, Omi und die beiden Tanten herzlich von mir!
Dir einen lieben Kuß von Deinem so dankbaren und getreuen Otto.
Teilen auf