Das Kriegsende in Potsdam

Erinnerungen, Dokumente und Fotografien von Zeitzeugen

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Gleich nach dem Ende des Krieges begann der Hobbyfotograf Karlheinz Hesener heimlich seine Heimatstadt Potsdam zu fotografieren. Bis zum Sommer 1946 hielt er mit der Kamera fest, wie die historische Altstadt durch die Bombennacht am 14. April 1945 und die letzten Kampfhandlungen zerstört wurde.

Erinnerung an die „Nacht von Potsdam“
Gedenken, Geläut und Konzert am Alten Markt

Fast 1600 Menschen kamen in der Nacht des 14. April 1945 ums Leben. Die Bilder des Krieges in der Ukraine verleihen dem Gedenken eine außerordentliche Aktualität (PNN, 11.04.22)

Nur mühsam gelingt dem Betrachter von heute eine Orientierung. Manche Gebäude wie das Stadtschloss, die Garnisonkirche oder das Palasthotel, die damals das Herz von Potsdam ausmachten, sind gänzlich aus dem städtischen Raum und aus den Vorstellungen der Bewohner verschwunden.

Die Fotografien sind bemerkenswerte Zeitdokumente, die erstmals, zusammen mit Ansichten der unzerstörten Stadt, in einer Ausstellung gezeigt werden.

Was Fotografien nicht abbilden können, ergänzen die Erinnerungsberichte von Potsdamer Bürgern, die im Frühjahr 1945 zwischen 13 und 28 Jahre alt waren und ihre Erlebnisse von damals in bewegenden Worten schildern, über ihre Ängste sprechen und die Sehnsucht nach dem Ende des Krieges ausdrücken.

Aufforderungen, diesen mörderischen Krieg zu beenden, haben alliierte Flugzeuge bereits ab 1943 als Flugblätter über der Front und den deutschen Städten abgeworfen. Die Bevölkerung musste diese „Feind-Propaganda“ einsammeln und abliefern. Der Hitlerjunge Horst Goltz hat heimlich diese Blätter aufgehoben und stellt aus seiner umfangreichen Sammlung einige Exemplare zur Verfügung, die als Kopie in der Ausstellung zu sehen sind.

 

Kriegsende

Chance für demokratischen Neuanfang

Als der Zweite Weltkrieg seinem Ende entgegen ging, gab es kaum noch eine Potsdamer Familie, die keine Opfer zu beklagen hatten. Zu vielen hatte der Briefträger die gefürchtete Nachricht vom Tode des Vaters, Bruders oder Sohnes gebracht.

Foto: Karlheinz Hesener
© Karlheinz Hesener

Britische und amerikanische Bomberstaffeln hatten die benachbarte Reichshauptstadt Berlin in Schutt und Asche gelegt und unzählige Opfer gefordert.

Auch Potsdam selbst war noch wenige Tage vor Kriegsende am 14. April 1945 Ziel eines der letzten großen Bombenangriffe gewesen. Wie überall in Deutschland sehnten auch die Bewohner dieser Stadt die Beendigung des Krieges herbei.

Doch die Hoffnung auf ein Ende der Nächte in den Luftschutzkellern und ein Leben ohne Krieg war gepaart mit der Angst vor den Siegern.

Mit dem von Deutschland ausgegangenen Krieg hatte die NS-Diktatur ihre Schreckensherrschaft über einen großen Teil Europas ausgebreitet. Inzwischen hatten viele von den Verbrechen erfahren, die im Namen des deutschen Volkes in den besetzten Ländern, vor allem in der Sowjetunion, verübt worden waren. Millionen Menschen waren dort umgekommen oder in tiefes Elend gestürzt worden.

Würden sich die Sieger nun an den Unterlegenen rächen? Wie würden sie sich verhalten? Die NS-Propaganda hatte von Gräueltaten sowjetischer Soldaten, von Vergewaltigungen und Plünderungen berichtet, und Flüchtlinge aus dem Osten hatten diese Nachrichten bestätigt.

Bei vielen Potsdamern waren deshalb Furcht und Ungewissheit stärker als die Hoffnung auf einen Neubeginn.

Dass die Niederlage des Deutschen Reichs zugleich eine Befreiung vom Nationalsozialismus war und das deutsche Volk von der schlimmsten Diktatur seiner Geschichte erlöste, erkannten viele im Frühjahr 1945 noch nicht. Erst mit dem Begreifen der Nazi-Verbrechen wuchs bei den Menschen die Vorstellung, dass der verlorene Krieg zugleich eine Chance für einen demokratischen Neuanfang war.

Potsdam im April 1945

Die entscheidende Schlacht um Berlin

Seit Januar 1945 bereitete sich die Rote Armee auf die entscheidende Schlacht um Berlin vor. Die 1. Belorussische Front und die 1. Ukrainische Front sollten die Gruppierungen der Wehrmacht im Raum Brandenburg/Berlin angreifen und zerschlagen. Potsdam war für den Verteidigungsbereich Berlins von großer Bedeutung, weil durch die Stadt wichtige Eisenbahn- und Straßenverbindungen von Berlin nach Westen und Süden verliefen.

Burgstraße mit Heilige-Geist-Kirche. Rechts: Inh. Brose Spedition und Schifffahrt. Foto: Karlheinz Hesener
© Karlheinz Hesener

Burgstraße mit Heilige-Geist-Kirche. Rechts: Inh. Brose Spedition und Schifffahrt. 

Am Abend des 14. April 1945 flogen 512 Bomber vom Typ Lancaster und Moskito der Royal Air Force nach Potsdam, mit dem Ziel, die militärischen Anlagen und die Verbindungswege von Berlin nach Westen zu zerstören. Zur Markierung wurden Leuchtbomben über dem Stadtgebiet abgesetzt.

Die Bombardierung begann 22 Uhr und dauerte ca. 20 Minuten. Es wurden 1.751 Tonnen Spreng- und Brandbomben abgeworfen. Durch die Bombardierung starben ca. 1.200 Menschen, die historische Altstadt von Potsdam wurde fast völlig zerstört.

Deutsche Truppen in und um Potsdam waren im April bereits stark dezimiert. Wie in vielen anderen Städten wurden sie durch schlecht ausgerüstete Volkssturmbataillone und HJ-Trupps verstärkt. Für die Verteidigung der Stadt galt der militärische Auftrag, um Potsdam „bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone“ zu kämpfen.

Am 24. April wurden Teile von Potsdam-Babelsberg durch sowjetische Panzertruppen eingenommen und von Bergholz- Rehbrücke aus die Teltower Vorstadt besetzt. Das weitere, schnelle Vordringen in die Innenstadt scheiterte zunächst an der deutschen Gegenwehr. Auch war die Lange Brücke, wie fast alle Brücken in Potsdam, gesprengt worden. Das historische Stadtzentrum wurde durch tagelange heftigen Kampfhandlungen weiter schwer zerstört.

Potsdam im April 1945
© Karlheinz Hesener

Am Abend des 25. April erreichten von Nordwesten kommend Verbände der Roten Armee Bornim und am nächsten Tag Potsdam-Bornstedt. Die deutschen Truppen leisteten bis zum 27. April Widerstand. In der Nauener Vorstadt und Jägervorstadt fanden vereinzelt Straßenschlachten statt. Nur mit hohen Verlusten konnten die sowjetischen Truppen in die Innenstadt Potsdams vordringen. Die Kampfhandlungen in Potsdam endeten am 30. April 1945.

Erinnerungen

Wie haben die Menschen in Potsdam das Ende des Krieges erlebt? 

Wie haben die Menschen, die 1945 in Potsdam wohnten, das Ende des Krieges erlebt? Was ist ihnen davon in Erinnerung geblieben. Die Landeszentrale hat mit Potsdamer Bürgern gesprochen, die im Frühjahr 1945 zwischen 13 und 28 Jahre alt waren. Sie schildern ihre Erlebnisse von damals in bewegenden Worten, sprechen über ihre Ängste und drücken die Sehnsucht nach dem Ende des Krieges aus.

Die Erinnerungsberichte wurden in einer Ausstellung, die die Landeszentrale 2005 unter dem Titel "Das Kriegsende in Potsdam" gezeigt hat, neben Fotos von Karlheinz Hesener erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Die persönlichen Einblicke der Gesprächspartner wirken jedoch über die unmittelbare Fotoausstellung hinaus und werden daher als wichtige Zeitzeugendokumentation an dieser Stelle vollständig zur Verfügung gestellt.

Charlotte J.

Geboren im November 1915

Hier auf unserem Gut in Bornstedt bin ich geboren, hier lebte ich auch 1944 zusammen mit meinen beiden Schwestern bei den Eltern. Wir haben hart gearbeitet, denn von den vielen Angestellten waren nur noch wenige da, die meisten wurden Soldaten und waren an der Front...

 

Horst G.

Geboren im April 1930
 

Im April 1945 hatte ich eine Ausbildung zum Nachrichtenhelfer und wurde auf den Fronteinsatz vorbereitet. Wir hatten einen Intensivlehrgang mit Jungbann 374 in der Spandauer Straße (heute Friedrich-Ebert-Straße). Ein Kriegsversehrter bildete uns aus. Den Bombenangriff erlebten wir in dem Keller des Jungbanns, der gleichzeitig ein öffentlicher Luftschutzraum war...

Wolfgang W.

Geboren im Februar 1932
 

Ich bin Potsdamer und mit den Werten des Preußentums groß geworden. Da fand ich meine Vorbilder. Meine Ideale waren Toleranz im Glauben und kein Rassismus. Danach wurde ich erzogen und das hatte ich mir angelesen. Die „Hitlers“ waren mir – obwohl ich ja noch ein Kind war – zutiefst unsympathisch...

Inge F.

Geboren im April 1933
 

An unsere Flucht aus Kattowitz erinnere ich mich genau. Am 17. Januar 1945 gab es den Befehl, dass Frauen und Kinder den Ort verlassen sollen. Ich kam gerade aus der Schule als Mutti sagte: „Morgen müssen wir weg.“...

Ursula W.

Geboren im Mai 1936
 

Bis Januar 1945 lebten wir in Kattowitz in Oberschlesien. Dann aber sollten meine Mutter, meine ältere Schwester und ich uns in Sicherheit bringen und flohen vor der näher rückenden russischen Armee nach Potsdam zu meiner Großmutter. Nur mein Vater blieb noch dort. In der Zeit gab es schon monatelang fast täglich Alarm in Kattowitz, manchmal auch Bombenangriffe...

Werner M.

Geboren im September 1930
 

Als der Krieg zu Ende ging, es muss im Februar oder März 1945 gewesen sein, fuhr eine Autokolonne der SS mit Lautsprechern durch die Straßen und forderte die Bewohner auf, in den Häusern zu bleiben, die Haustüren abzuschließen und die Fensterläden zuzumachen. Ich aber war neugierig und hab trotzdem heimlich durch die Ritzen der Fensterläden gesehen...

Rosemarie C.

Geboren im November 1923
 

Mein Vater war Ofenbaumeister und meine Mutter hat die Buchhaltung gemacht. Ich hatte eine herrliche Kindheit. Meine Grundschule war in der Hohenzollernstraße (heute Schopenhauerstraße), später ging ich dann in die Deutsche Oberschule für Mädchen. Meine beste Freundin war Renate Kasack, man nannte uns immer „Re und Ro“, weil wir eigentlich alles gemeinsam gemacht haben...

Hildegard H.

Geboren im August 1914

Am 13. April 1945 bekam ich unseren zweiten Sohn. Der hatte es plötzlich sehr eilig, auf die Welt zu kommen. Das war eine Tour!...

Die Gespräche hat Martina Schellhorn, Mitarbeiterin der Landeszentrale und zuständig für Ausstellungen, Anfang 2005 geführt und aufgeschrieben.

Dokumente

Flugblätter der Alliierten

Der Hitlerjunge Horst Goltz hat heimlich die Flugblätter der Alliierten aufgehoben und stellt aus seiner umfangreichen Sammlung einige Exemplare zur Verfügung, die als Kopie in der Ausstellung zu sehen waren:

 

Epilog

Aus den Tagebuchnotizen von Hermann Kasack aus dem Jahr 1945

Über die Ausstellung

Diese Fotos sind eine kleine Sensation

Vor einigen Jahren vermachte mir ein älterer Herr ungefähr zehn Dias aus der Nachkriegszeit von Potsdam und erzählte mir beim Betrachten der Bilder, wie er die Zerstörung der Stadt, der vertrauten Gebäude, Brücken und Wege erlebt hatte.

Generationen hatten die Stadt gebaut, darin gelebt, sie geprägt und plötzlich war nichts mehr wie zuvor. Dieses Erlebnis hatte ihn tief erschüttert und veranlasst, seine zerstörte Stadt zu fotografieren.

An diese Episode musste ich denken, als ich die Ausstellung „Das Kriegsende in Potsdam“ besuchte und die Fotografien von Karlheinz Hesener sah. Nicht nur die Vielzahl der Aufnahmen und dass sie in Farbe fotografiert wurden, ist etwas ganz Besonderes, sondern die Tatsache, dass es diese Fotos überhaupt gibt. Wenn man bedenkt, dass der Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht vom 15. April 1945, der die Abgabe von Waffen, Munition, Schreibmaschinen, Radios und Fotoapparaten verfügte, noch nicht aufgehoben war, Hesener also verbotenerweise und heimlich fotografierte, sind diese Fotos weit mehr als die Illustration der Nachkriegsgeschichte von Potsdam – sie sind eine kleine Sensation!

Karlheinz Hesener in der Ausstellung. Foto: fbn
© fbn

Karlheinz Hesener in der Ausstellung. 

Hesener bezeichnet sich selbst als Hobbyfotografen. Das ist eine Untertreibung, denn seine Bilder sind mehr als dokumentierende Momentaufnahmen. Der ordnende und gestaltende Blick des Fotografen ist erkennbar und das trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen die Fotos entstanden sind. Man sollte sich auch erinnern, dass hier ein Mann einen Fotoapparat und Filmmaterial in Farbe besaß und beides nicht auf dem Schwarzen Markt in Lebensmittel eintauschte, obwohl größte Not herrschte.

Bisher glaubte ich, die Fotografien von Potsdam aus der Zeit von 1945-50 zu kennen und entdecke jetzt, dass eine Bilderserie existiert mit Aufnahmen von Gebäuden, Straßen und Plätzen, die in keinem Archiv oder Museum zu finden sind. Zum ersten Mal sehe ich hier das halbzerstörte Gebäude des Reichsarchivs (heutiger Landtag), den Bahnhof im Zustand von 1947 oder die Ruine des Palastes Barberini, bevor er abgerissen wurde. Die Fotografien des Gebäudeensembles von Stadtschloss, Palasthotel und Altem Rathaus kann ich nur mit großer Bewegung betrachten, sind sie doch – wie zum Beispiel auch die „Kanaloper“ – ein Beweis dafür, dass manches zu retten gewesen wäre, was in den 50er Jahren der Abrissbirne zum Opfer fiel.

Die Liebe zu seiner Stadt mag für Karlheinz Hesener ein Hauptmotiv gewesen sein, diesem nicht ungefährlichen Hobby trotz allem nachzugehen und die Zerstörungen zu dokumentieren, um sie für spätere Generationen zu bewahren.

Mit Recht kann ich sagen, diese Fotografien sind nicht nur besonders, sie sind einmalig! Ich hoffe sehr, dass sich während der Dauer der Ausstellung ein Verlag findet, der diese Serie publiziert. Eine große Anzahl dieser Fotos sollte eigentlich unter „Denkmalschutz“ gestellt werden, denn sie gehören unbedingt zu der noch zu schreibenden Geschichte von Potsdam im 20. Jahrhundert.

Der Familie Hesener ist zu danken, dass sie über die Jahre diesen Schatz bewahrt und allen Versuchungen widerstanden hat, die Sammlung auseinander zu reißen. Der Landeszentrale für politische Bildung ist zu gratulieren, diese wertvollen Aufnahmen zum ersten Mal in einer Ausstellung zu zeigen.

Hartmut Knitter
Historiker

Zur Eröffnung der Ausstellung

Martin Sabrow: Warum wächst unsere gefühlte Nähe, während der wirkliche Zeitabstand immer größer wird?

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Ausstellung, die wir hier vor uns sehen, zeigt beeindruckende Bilder, und sie hat ihr Material beeindruckend aufbereitet. Das Thema Kriegsende bewegt uns in einem unvorhergesehenen Maße. Der Zweite Weltkrieg kommt uns paradoxerweise um so näher, je ferner er rückt, und ich will die Gelegenheit meiner einführenden Bemerkungen dazu benutzen, um ein wenig über das paradoxe Verhältnis von Nähe und Ferne nachzudenken, in dem wir uns gegenwärtig bewegen.

Martin Sabrow in der Ausstellung "Kriegsende in Potsdam" 2005
© Harald Hirsch

Sechzig Jahre, zwei Generationen trennen uns von dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und die gefühlte Entfernung ist noch viel größer. Aus dem Stadtbild sind die vielen Kriegskrüppel verschwunden; der Volkstrauertag gilt uns nicht mehr viel, es wird nicht mehr Mehl in der Speisekammer gehortet oder das Wegwerfen von Brot als Undankbarkeit angeklagt.

Zwischen uns und 1945 hat sich eine eigene, nun auch abgeschlossene Epoche der deutschen Teilung und des Kalten Krieges geschoben, die selbst schon etwa am Checkpoint Charlie lärmend laut inszeniert werden muß, um noch verstanden zu werden.

Das Jahr 1945 markiert für uns heute auch eine Erinnerungszäsur, nämlich das Ende der Zeitgeschichte als Geschichte der Mitlebenden. Es sind nicht mehr viele unter uns, die bei den Bildern dieser Ausstellung den Schmerz über die verlorene Einrichtung, das zerstörte Haus, den in den letzten Kriegswochen so sinnlos gestorbenen Vater, Freund, Bruder aufsteigen spüren.

Prof. Dr. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam; Foto: Harald Hirsch

Für die meisten sind diese Bilder nicht alte, sondern neue Bilder; sie rufen eine versunkene Stadt in Erinnerung und sie wecken die Trauer um eine unwiederbringlich zerstörte Stadtsilhouette, die uns wünschen lässt, dass der Wind an diesem 14. April anders gestanden hätte, dass das Gerücht von der Verlegung des OKW nach Potsdam nicht zu den Alliierten gedrungen wäre usw.

Und die Bilder tun es in Farbe – während unser Bild der NS-Zeit ansonsten ein schwarz-weißes ist. Andererseits: Gerade die Farbe gibt uns Nähe, sie lässt über die Zäsur von 1945 zurückspringen. Ein Farbbild noch der teilzerstörten Nikolaikirche gibt denselben Farbeindruck wieder, an dem wir heute jeden Tag vorbeigehen.

Das Fortunaportal, das aus der Potsdamer Innenstadtwüste herausragt, wirkt weniger fremd, wenn man auf dem Foto erkennt, dass es 1945 nach der Zertrümmerung des Stadtschlosses im Grunde schon genauso in der Brache stand wie heute wieder.


Warum aber wächst unsere gefühlte Nähe, während der wirkliche Zeitabstand immer größer wird?

Auf diese Frage antworten in diesen Tagen viele in Deutschland, und wir Fachkollegen bieten viele Erklärungen an:

1. Wir haben lange Jahre verdrängt, und nun dringt die Vergangenheit mit Macht ans Licht, um verarbeitet zu werden. Diese Erklärung wirkt triftig gerade in Ostdeutschland, wo die Kriegsschäden weniger ein Tabuthema waren als vielmehr die Aufforderung, auch die stehengebliebenen Reste zu entsorgen, und sie ist charmant, denn sie beweist uns schulterklopfend, dass wir unsere Lektion gelernt haben, die unsere Eltern noch nicht begriffen.

Gerade deshalb traue ich dieser Erklärung auch nicht besonders, so richtig sie sein mag, denn dann hätte vor zehn Jahren der 50. Jahrestag des Kriegsendes schon mit einer solchen Ausstellung wie dieser gedacht werden müssen. 1995 aber wurde des Kriegsendes beinahe beiläufig gedacht, und der Spiegel titelte triumphierend „Bewältigte Vergangenheit“.

2. Eine zweite Erklärung ist weniger geeignet, unsere Selbstzufriedenheit zu unterstreichen. Könnte es sein, dass Vergangenheitseroberung und Zukunftsverlust in einem engen Verhältnis zueinander stehen? Die Jahre der sozialistischen Vergangenheitsvernichtung, wie sich in den Stadtbauplänen der sechziger Jahre, im Schloßabriß, im Abriß der Garnisonkirche ausdrücken, sind Jahre einer radikalen Zukunftsorientierung gewesen, die gegen Ende der DDR immer sichtbarer verfiel.

Auch in der Bundesrepublik kehrte die Vergangenheit erst mit den späten siebziger Jahren wieder, als der Glaube auf eine dauerhafte Fortsetzung des Wirtschaftswunders erschüttert wurde. Und in unserer Gegenwart hat die Erinnerung und das Gedenkens an die NS-Vergangenheit und auch an den Holocaust mittlerweile ungefähr dieselbe identitätsstiftende Rolle eingenommen, die früher die D-Mark oder das Made in Germany-Zeichen trugen.

Prof. Dr. Martin Sabrow; Foto: Harald Hirsch

3. Gleichviel, ob historischer Lernerfolg oder bloßer Rhythmus des Zeitgeistes: Die heutige Erinnerungskultur hat alte Tabus abgestreift. Sie erlaubt uns, aus der Ferne auf Ereignisse und Schrecken zu schauen, die wir aus der Nähe des Miterlebens nicht hätten wahrnehmen mögen, und sie gerade dadurch näher an uns heranzulassen, als dies vor Jahrzehnten möglich war – in Ost und West. Wir können heute an den Schmerz und das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung erinnern, gerade weil daraus niemand mehr, der im öffentlichen Diskurs ernst genommen werden will, einen Aufrechnungsanspruch ableitet.

Darum können wir heute mit den Bildern des Krieges beschäftigen und mit den Erinnerungen der Beteiligten, die wir früher nicht hatten hören wollen. Aus dieser Konstellation ist der Zeitzeuge erwachsen, eine moderne Erfindung, die es vor dreißig Jahren noch nicht gab, als es noch darum ging, hinter dem Biedermann – er hieß Lübke, Globke, Filbinger, Höfer oder auch nur in seiner Gedankenlosigkeit Jenninger – den Brandstifter zu entlarven.

Der Zeitzeuge unserer Tage, der in dieser Ausstellung so graphisch gekonnt zu Worte kommt, dokumentiert, dass die Unterscheidung zwischen Helden und Schurken auch in bezug auf die NS-Zeit langsam zurückgetreten ist. Die Deutschen der NS-Zeit sind im Rückblick zugleich alle Täter, wie Götz Alys neuestes Buch über den Volksraubstaat zeigt, aber auch Opfer.

Wir distanzieren uns zugleich von der Gesellschaft der Täter und nehmen sie in die Gemeinschaft der Opfer auf. Bernd Eichingers „Untergang“ zeigt, dass sich diese Sicht sogar bis hin zu Hitler selbst spannen lässt, der in diesem Film zugleich als Täter, immer stärker aber als Opfer erscheint – als Opfer seiner Hybris, des Verrats seiner Paladine, des geschwundenen Kriegsglücks.

4. Als Wissenschaftler beobachten wir einen dramatischen Wechsel von der früheren Helden- zur Opferperspektive, und er drückt sich am deutlichsten vielleicht in der Ablösung des Kriegsendes als Katastrophe durch den 8. Mai als Befreiung aus. Wer die Fotos von Karlheinz Hesener in sich aufnimmt, sieht den Untergang Potsdams, nicht den befreienden Aufbruch, und es gibt gute Gründe, den Erinnerungskonsens in Zweifel zu ziehen, der die besiegten Deutschen zu Befreiten erklärt:

Die Alliierten haben diese Sicht empört abgelehnt, sie tut den wirklich Befreiten- den Juden im Untergrund, den Häftlingen auf den Todesmärschen – Unrecht, sie verwandelt die ns. Gesellschaft unhistorisch in eine Geisel der Hitlerclique, obwohl sie ihn doch erst groß gemacht hatte. Erst später ist der damalige Zusammenbruch zu der Befreiung geworden, für wenige 1945, für viele 1949, für viele auch erst 1989.

5. Auf diese Weise stößt unsere kleine Ausstellung in das Zentrum der Fragen vor, die unsere Erinnerungskultur ausmachen, und wir können an ihr lernen, dass wir in den Fotos und Texten von 1945 nicht die Vergangenheit selbst sehen, sondern zugleich wie im Spiegel immer auch unsere eigenen Gegenwart.

Martin Sabrow, 3.05.2005

 

 

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