Interview mit Radio Eins

zur Eröffnung der Ausstellung „Wendekinder“ im Haus der Kultusministerkonferenz in Bonn am 10.01.2005

Als die Mauer fiel, kamen sie auf die Welt, die ostdeutschen Jahrgänge 89/90 haben das Land nicht mehr kennengelernt, in dem ihre Eltern gelebt haben. Was bewegt die Jugendlichen, die als erste Generation im wiedervereinten Deutschland aufwachsen, welche Wünsche und Vorstellungen haben sie von ihrem Leben, was bedeutet Heimat für sie, wie wichtig sind Schule, Beruf und Familie. Fragen die im Rahmen eines Ausstellungsprojektes 27 Jugendlichen aus Brandenburg gestellt worden sind. Die daraus entstandenen Porträts kann man sich zur Zeit in den Räumen der Kultusministerkonferenz in Bonn anschauen. Martina Schellhorn von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung hat heute morgen die Ausstellung mit eröffnet und ist jetzt live auf Radio Eins:

Radio Eins, Anne Kaspari:
Einen schönen guten Tag Frau Schellhorn, hallo.

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Martina Schellhorn:
Hallo Frau Kaspari.

Anne Kaspari:
Wendekinder ist ein toller Begriff, toller Titel für eine Ausstellung. Wendekinder sind aber eigentlich auch all die anderen 15jährigen in diesem Land, die als erste Generation des wiedervereinten Deutschlands aufgewachsen sind. Sie aber haben ausschließlich Jugendliche aus dem Osten gesprochen. Wahrscheinlich, weil sie da bestimmte Dinge vermuteten, nämlich welche?

Martina Schellhorn:
Wir sind die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung. Da liegt es nahe, Brandenburger Jugendliche zu fragen. Dass es ausschließlich welche aus dem Osten sind und die Eltern aus dem Osten stammen war Zufall. Es hätten ja auch Zugezogene sein können. Aber natürlich hat mich dann besonders interessiert, was die Kinder in der unmittelbaren Umgebung, in der ich arbeite, empfinden. Es wird sich zeigen, ob bei den Jugendlichen, die zur selben Zeit geboren sind, das Lebensgefühl so viel anders ist. Möglicherweise nach diesem Jahr, so lange wie die Ausstellung hier sein wird.

Anne Kaspari:
Können Sie denn schon ausmachen, ob die Wendekinder sich von anderen in irgendetwas unterscheiden?

Martina Schellhorn:
Auf jeden Fall von den Generationen, die davor diese Zeit erlebt haben, nämlich die Zeit der Pubertät, 14/15 ist ja das spannendste Alter. Und das hab ich sehr oft schon erlebt in den letzten Monaten, als ich mit dem Projekt beschäftigt war. Ich denke, die Generation jetzt ist reifer. Sie weiß viel genauer, was sie will, ist viel nüchterner in ihren Ansichten. Und im übrigen relativ wenig daran interessiert, was mit DDR zu tun hat.

Anne Kaspari:
Was interessiert die Wendekinder am meisten?

Martina Schellhorn:
Ihre eigene Zukunft und was sie einmal machen wollen. Ganz stark interessiert sie das und das nicht nur auf den engen Radius Brandenburg beschränkt. Wenn’s sein muss, haben mir eigentlich alle gesagt, würden sie bis Bayern auswandern, wenn es denn dort Arbeit oder Lehrstellen gäbe. Den Zusammenhalt mit der eigenen Familie empfinden sie auch ganz stark, was wiederum nicht heißt, dass sie demnächst alle Familienväter oder -mütter werden wollen. Das ist eine Diskrepanz, die ich ganz interessant finde. Ihnen selber ist die Familie als Anker und als Wurzel ausgesprochen wichtig.

Anne Kaspari:
Ja ja, aber sie wollen keine Verantwortung übernehmen.

Martina Schellhorn:
Das weiß ich noch gar nicht. Die Verantwortung ist erstaunlich global. Also ich hab von vielen Kindern z. B. große, gut formulierte Antworten bekommen, dass sie sich jetzt schon Gedanken machen, wie ungleich die Reichtümer auf dieser Welt verteilt sind und dass sie in Ruhe überlegen, wenn sie mal einen Job haben, wo sie viel Geld verdienen, wie sie dann anderen helfen können. Das hat mich verblüfft. Ich weiß eigentlich nicht mehr, ob ich mit 14 das alles schon gesagt hätte. Dazu muss ich sagen, es waren keine Schulantworten. Es gab keine richtigen oder falschen Antworten, sondern wir haben sehr lange Gespräche geführt und es war sehr ehrlich, was da kam.

Anne Kaspari:
Haben Sie denn die Jugendlichen auf den Schulhöfen gefragt? Und wie kamen Sie an sie heran?

Martina Schellhorn:
Ganz so spontan war es nicht, sondern ich hab an drei Orten: an einer Gesamtschule in Kunow, einem Dorf; in Wittenberge am Gymnasium und in Potsdam an der Voltaire-Schule jeweils 8. Klassen besucht, das Projekt vorgestellt und dann gefragt, wer möchte mitmachen. Die einzige Bedingung war: Geburtsjahr ’89 oder ’90. Und dann haben wir uns verabredet, manchmal zwei bis drei Mal für mehrere Stunden und ich hab mit Ihnen gesprochen. Zuerst Fragen gestellt und dann Geschichten erzählen lassen.

Anne Kaspari:
Und wie muss ich mir das jetzt im Rahmen dieser Ausstellung vorstellen? Sind da einfach große Texttafeln und ich muss mir dann all diese Interviews durchlesen?

Martina Schellhorn:
Nein, das wäre ja schrecklich anstrengend, schon die Vorstellung ist schrecklich. Nein, der Untertitel der Ausstellung heißt: Ansichten von Jugendlichen. Und das ist ganz wörtlich zu nehmen. Der Fotograf Achim Sommer hat die Jugendlichen proträtiert und versucht, immer die Situation einzufangen, wie ich sie erlebt habe. Also dieses Offene, Zugewandte, in die Augen des Betrachters sehen. Das kann man jetzt auch erleben. Und dann haben sie zu bestimmten Rubriken eine Menge gesagt, und ich habe versucht, dies umzusetzen und in eine Form zu bringen, die auch Spaß macht zu lesen. Man wird hier verschiedene Tafeln finden mit Aussagen zu Beruf, Schule oder Politik. Und das finde ich nun wieder ganz gut, dass das hier im Haus der Kultusministerkonferenz hängt, wo letztendlich die Politiker darüber entscheiden, was Schule, Beruf und Politik mit den Kindern zu tun hat.

Anne Kaspari:
Deshalb, jetzt verstehe ich, warum die Ausstellung zwar von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung konzipiert wurde, aber in Bonn ausgestellt wird.

Martina Schellhorn:
Genau. Die Ausstellung war schon einmal für einige Monate in unserem Haus in Potsdam zu sehen und dann entstand die Idee, sie zu erweitern und sie hier als Beigabe, als Rahmen, als sehr konkrete Landesgeschichte Brandenburgs für die Zeit des Vorsitzes vom Land Brandenburg in der Kultusministerkonferenz zu zeigen.

Anne Kaspari:
Also eine Dauerleihgabe oder wird die Ausstellung vielleicht auch ein anderes Mal in Berlin zu sehen sein?

Martina Schellhorn:
Auf jeden Fall, denn wir haben von Anfang an einen Teil der Ausstellung so konzipiert, dass er wandern kann. So dass man nach einem Jahr, wenn die Tafeln noch in gutem Zustand sind, eine sehr umfangreiche Geschichte ausleihen kann. Und ich wünsche mir einfach viele Multiplikatoren in den nächsten Monaten, dass sie dann auch wirklich wandert und dass möglicherweise eine Art Dialog zustande kommt. Heute habe ich hier schon Signale bekommen von Eltern, die sagen, wir haben auch Kinder im selben Alter hier in Bonn, und uns würde interessieren, ob die genau so denken, wo die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten sind.

Anne Kaspari:
Da ist also der Ball ins Rollen gekommen. Vielen Dank. Martina Schellhorn war das von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung zur wandernden Wendekinder-Ausstellung, die heute in Bonn eröffnet wurde.

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