Von Hoffnungen und Schwierigkeiten

Raimund Krämer

Wie wären die Antworten im Jahre 1966 ausgefallen?
Der Verfasser dieser Zeilen hatte gerade seine Jugendweihefeier im kleinsten Kreise der kleinen Familie in einem Dorf in Sachsen hinter sich gebracht; er fühlte die kommende Männlichkeit in sich und fragte nach dem Sinn des Lebens und dem, was danach kommt.

Die Erinnerungen, die beim Lesen dieser Gespräche mit Jugendlichen aus dem Land Brandenburg wach werden, geben eine Ahnung von dem, was – sicherlich etwas pathetisch – als das „Ewigmenschliche“ genannt wird. In diesem Falle ist es das Erwachsenwerden. Und auch hier und heute scheint sich dies mit den beständig wiederkehrenden Komödien und Tragöden des menschlichen Lebens zu vollziehen: Der Tod, den man erstmals in unmittelbarer Nähe bewusst wahrnimmt; der sich hinziehende Bruch mit den Eltern, zumindest mit einem Teil; das abrupte Ende von Ferien- und anderen -liebe(n); die Übelkeit nach zuviel Alkohol oder auch die Peinlichkeit, die einem beim ersten „Sie“ befällt. Aber dazu gehören auch die neuen Gefühle des Körpers, die geraden Urteile, die manchmal gnadenlos sind, die sehr konkreten und ständig wechselnden Berufspläne und die geträumten Hoffnungen, dass es (?) irgendwie (?) anders (?) werde. Diese Protokolle erzählen auch davon.

Aber beim Letzten, beim Anderswerden, kommt das Schreiben ins Stocken. Der Wunsch nach Geborgenheit, nach Familie – besonders wenn ein Teil fehlt – ist in diesen Testimonien, diesen Zeugnissen, sehr prä-sent. Und das unterscheidet sie von möglichen Antworten aus einer Zeit, die die Zahl 68 als Prägung bekam. Dass „der Fortschritt zu schnell“ sei und dass Weihnachten „so wie früher gefeiert werden sollte“, diese Antworten sind für die 60er Jahre schwer denkbar – zumindest dass sie so offen ausgesprochen werden. Vielleicht zwingt heute kein vermeintlicher Zeitgeist sie in ein ideologisches Korsett; vielleicht sind Tradition wie auch Familie für diese Jugendlichen Werte an sich, zu denen sie ohne Scheu stehen.

Weitere Unterschiede werden sichtbar, aber die resultieren aus ihrer (heutigen) Zeit und sind somit (fast) als „normal“ anzusehen: hohe Telefonkosten, unverbindliches Chatten im Netz, der Druck der Werbung, auch Drogen, speziell „Gras, das man auf dem Schulhof bekommt, wenn das Geld nur da ist“. Ja, das Geld, es ist deutlich präsenter, was kein Vorwurf sein soll. Ob „Wendekinder“ die passende Bezeichnung ist, scheint mir fraglich, eher irreführend; sicher ist aber: „Wunderkinder“ sind es auch nicht, zum Glück!

Auch diese Generation scheint nicht unpolitisch zu sein, soweit man pauschale Urteile hierzu fällen kann. Man sieht Nachrichten, meistens; hat eine Meinung zu Hartz IV, zu Nullrunden und zur Rechtschreibreform; will später zur Wahl gehen – aber bitte „nicht schon mit 16 Jahren“ – und hat schon mal an einer „Demo“ teilgenommen und dabei ein „gutes Gefühl“ gehabt.

Und welche Antworten könnten wir lesen, wenn die Jugendlichen zwar auch 1989 zur Welt gekommen, aber dann in Aachen, Osnabrück oder Kiel aufgewachsen wären? Gewiss, wir würden von gleichen Schwierigkeiten und ähnlichen Hoffnungen lesen. Zugleich wäre sicherlich auch die Differenz erkennbar. In all den vorliegenden Gesprächen spielt die Jugendweihe als das Initiationsritual auf dem Weg zu Erwachsenwerden eine Rolle, und selbst jene, die sie nicht feiern, suchen Ersatz oder meinen erklären zu müssen, warum sie diese nicht hatten. Da ist die DDR als etwas Vergangenes, nur schwer Vorstellbares. Die Alten erzählen davon, meist kurz als Referenz zum Heutigen; manchmal mit, oft ohne Ostalgie. Stichworte sind dabei Mauer und Einengung, aber auch Ordnung und Zusammenhalt. Und nicht zuletzt spiegeln die Antworten die heutige soziale Realität des Ostens wider, konkret die von Brandenburg: die Entvölkerung großer Teile des Landes, die auch zur Schließung der eigenen Schule führt; die Furcht, dass angesichts einer Arbeitslosenrate von über 20% im Lande auch die eigenen Eltern davon betroffen werden und die Tristesse in kleineren und mittleren Städten mit Abrissbirnen und Obdachlosen. Aber auch hier ließe sich Gegenteiliges in den Protokollen finden; auch hier ist eine Vielfalt, die es schwierig macht, dieser Generation (im Osten) bereits ein Label zu geben.

Was all diese Texte ausmacht, ist eine Offenheit, die, teilweise herzerfrischend, teilweise traurig, aber stets berührend ist. Dafür ist sicherlich auch der behutsamen Gesprächsführung der Autorin dieser Protokolle, Martina Schellhorn, zu danken. Ihr gelang es, in den Antworten der Jugendlichen die besonderen Geschichten zu finden. Die Texte befördern nicht nur das Generationengespräch, das auch zum vielzitierten Vertrag der Generationen gehört, sondern wecken Erinnerungen und das damit verbundene Nachdenken über sich selbst, über die Wechsel und über die Konstanten des Lebens. Zumindest war dies die Wirkung bei mir. Daraus ziehe ich nicht nur den Wunsch, sondern die berechtigte Hoffnung, dass Gleiches den Lesern widerfahren werde.

Raimund Krämer
Potsdam, im November 2004

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