Eine Brandenburgerin in Paris. Was Franzosen über Deutschland wissen wollen

Eine „Landeszentrale für politische Bildung“ erregt in Frankreich große Aufmerksamkeit. Etwas Vergleichbares kennt man dort nicht. Der Satz der deutschen Kanzlerin „ Wir schaffen das, davon bin ich fest überzeugt“ ist jedoch in aller Munde und wird lebhaft diskutiert.

Seit nunmehr 10 Jahren werde ich immer wieder vom Verein der Deutschlehrer in das Lycée Henri IV nach Paris eingeladen. Diese Bildungseinrichtung gilt als eine der anspruchsvollsten und angesehensten höheren Schulen Frankreichs und auch der Deutschunterricht ist hier besonders intensiv. Die Institution einer „Landeszentrale für politische Bildung“ erregt in Frankreich große Aufmerksamkeit. Etwas Vergleichbares kennt man in Frankreich nicht. Welche Rolle spielen die Landeszentralen in den jeweiligen Bundesländern? Welche Angebote machen sie über welche Medien?

Außerordentlich stark interessieren sich die Studierenden für die friedliche Revolution in der DDR und den Transformationsprozess in Ostdeutschland. Ich glaube, das liegt daran, dass die Franzosen nach wie vor ziemlich rebellisch sind - und ab und zu von ihrer eigenen Revolution träumen. Auch bei meinem diesjährigen Besuch berichtete ich während des regulären Unterrichts über diese Zeit. Warum ordnen sich Menschen unter? Was gibt den Anlass zum Aufbegehren? Und was heißt es eigentlich, in einer Diktatur zu leben? Besonders die Frage nach der Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft, der eigenen Verantwortung für ein menschenwürdiges Leben, spielte gerade in den aktuellen Debatten eine große Rolle.

Die Flucht vieler Menschen vor Krieg, Hunger und Tod bewegt ganz Europa auf unterschiedliche Weise. Der Satz der deutschen Kanzlerin Angela Merkel „ Wir schaffen das, davon bin ich fest überzeugt“ vom September 2015 ist auch in Frankreich in aller Munde und wird lebhaft diskutiert. So bildete die Podiumsdiskussion zu diesem Thema den Höhepunkt meiner Gespräche im Lycée Henri IV. Schülerinnen und Schüler, Studierende, zahlreiche an Deutschland Interessierte, Dozenten und Professoren aus anderen Bildungseinrichtungen kamen zu dieser öffentlichen Veranstaltung.

 

Ankündigungsplakat für die Diskussion

Beginnend mit der Einordnung des Kanzlerinnensatzes in den völkerrechtlichen und europäischen Kontext, in Entscheidungen der deutschen Bundesregierung und des Bundestages referierte ich über die Situation in Deutschland (Fluchtursachen, Fluchtwege, Aufnahmeländer, Asylverfahren in Deutschland, Willkommenskultur sowie über Rechtspopulismus auf Kosten der Geflüchteten und rechtsextremistische Straftaten gegen Leib und Leben der Asylsuchenden).

Besonders faszinierte die Zuhörenden das große ehrenamtliche Engagement der Bevölkerung (9,1 Millionen). In der sich anschließenden Debatte, die ich gemeinsam mit Joseph Philipps, Generalinspekteur für Deutsch im französischen Bildungsministerium i.R. bestritt, wollte das Auditorium genau wissen, wer sich wie engagiert und was die Motive hierfür sind. Ich nahm dies gleichzeitig zum Anlass darauf hinzuweisen, dass die Wertschätzung dieses ehrenamtlichen Engagements von großer Bedeutung ist. Noch nie sei auch mir persönlich so deutlich geworden, mit welcher großen Sensibilität die Kirchen in Deutschland die Willkommenskultur unterstützen und begleiten sowie Politiker öffentlich rügen, die auf Kosten der Geflüchteten auf Stimmenfang zu gehen versuchen.

Interessiert wurde zur Kenntnis genommen, dass die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung weniger „von oben“ agiert, sich nicht im Verhältnis eines Lehrers gegenüber Schülern sieht, sondern ihre Rolle eher in der Aktivierung und Stärkung der Zivilgesellschaft findet, der Akteure vor Ort - auch insbesondere bei den Herausforderungen, die aus der Aufnahme von Geflüchteten erwachsen, die von ihr inhaltlich beraten und finanziell gefördert werden.

Natürlich durfte die Debatte um die Rolle und den Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) nicht fehlen. „Wann wird diese Partei endlich als rechtsextremistisch gebrandmarkt und verboten“ wurde gefragt. Dieses Stichwort war ein guter Anlass für mich,  die sehr hohen Anforderungen an ein Parteienverbot in Deutschland darzulegen und deutlich zu machen, dass es in einer Demokratie darauf ankommt, sich in erster Linie politisch mit Andersdenkenden und anders Agierenden auseinanderzusetzen. Unabhängig davon muss sich die freiheitlich demokratische Grundordnung natürlich vor Straftaten schützen und Straftäter konsequent nach den Prinzipien des Rechtsstaates verfolgen.

Die letzte Frage des Abends berührte mich am meisten.

Politisiert die Situation in Deutschland auch Menschen, die eigentlich „nur“ aus solidarischen Gründen Geflüchteten helfen? Wie können diese dauerhaft zum Engagement angeregt werden?

An dem Punkt wurde mir ganz persönlich deutlich, wie schön es ist, im gemeinsamen Haus Europa zu leben, miteinander zu debattieren und sich auszutauschen. Denn diese Frage bewegt auch mich sehr und harrt noch der Beantwortung.
 

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Martina Weyrauch

Dr. Martina Weyrauch, vom 19.10.2000 bis zum 31.01.2025 Leiterin der Landeszentrale, ist Großmutter einer aufgeweckten Enkelin, engagiert sich in ihrer Kirchengemeinde und unterstützt Flüchtlingsinitiativen. Sie fühlt sich geehrt, wenn Bürgerinnen und Bürger anrufen und sie um ihren Rat fragen.

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Ich habe mich über Corinnes Kommentar sehr gefreut, besonders über den Hinweis auf den Elysée-Vertrag. Es kann nicht schaden, den Verantwortlichen auf beiden Seiten die Formulierung des Vertrags immer einmal wieder in Erinnerung zu rufen. Dort heißt es (deutsche Fassung): "Die beiden Regierungen erkennen die wesentliche Bedeutung an, die der Kenntnis der Sprache des anderen in jedem der beiden Länder für die deutsch-französische Zusammenarbeit zukommt. Zu diesem Zweck werden sie sich bemühen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen." Auch wenn gegenwärtig so vieles andere so viel wichtiger zu sein scheint: Dieser Absatz umschreibt eine eminent politische Aufgabe. Sie zu lösen ist nicht allein Sache der (französischen) Deutschlehrer oder der (deutschen) Französischlehrer. Martina Weyrauchs brillantes Auftreten in Paris hat die deutsch-französische Zusammenarbeit ein Stück weitergebracht.

Ich war Gast bei dem Vortrag von Frau Dr. Weyrauch in Paris. Noch nie hat jemand so klar, verständlich und einleuchtend von der Flüchtlingskrise gesprochen, die keine "Flüchtlings"krise ist. Ich bin Deutschlehrerin und wir kämpfen für unser Fach, was von einer Schulreform bedroht ist, obwohl sich Frankreich im Élysée-Vertrag zur Förderung des Deutschunterrichts verpflichtet hat. Wir haben leider keine vergleichbare Institution wie die Landeszentralen für politische Bildung in Deutschland. Dabei brauchen wir sie auch dringend, den der Front National liegt nicht selten bei 40%. Wir hoffen weiter auf diese Besuche aus Deutschland. Danke sagt Corinne

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