
Rede zur Ausstellungseröffnung von Peter Rohn
Wie ein TSUNAMI ist am vergangenen Wochenende des große Medien-Revival-MAUERFALL über Berlin und seinen "Speckgürtel" geflutet und hat manche Gehirnspülung verursacht. Ich bemerke, unsere psychischen Kräfte sind endlich.
Deshalb will ich das Wort unverzüglich, mit dem Herr Schabowski nichtsahnend den Riegel zur Zeiten-Wende gelöst hat, "sofort" noch einmal in Gebrauch nehmen und die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung "unverzüglich" lobpreisen: Sie plante in kluger Voraussicht diese beruhigend schöne Foto-Ausstellung mit den Abend- und Nachtaufnahmen des Michael Lüder. Und gibt sie uns heute Abend in fein gegliederter Abfolge an den Wänden der beiden Räume vor Augen.
Unter dem Gesetz der Schwerkraft und mit der Beweglichkeit des Wassers beginnt in diesen Stunden der große Wortschwall wieder abzufließen. Der Kopf wird "frei", darf sich einem kontemplativen Denken hingeben; im Lexikon stehen für kontempativ solche Worte wie "beschaulich, besinnlich", aber auch "Versunkenheit in die Werke Gottes und der Natur".
Es sind also hier nicht Bildreportagen von Mauerstürmern mit hochgerissenen Armen und euphorisierten Schreien, oder wegen der gleichsam vom Himmel einschwebenden Groß-Politiker, die gestern noch just in time alle Medienbilder bevölkerten, sonder Bilder normaler städtischer Situationen, wie sie sich seit zwei Jahrzehnten stabilisieren.
Michael Lüder holt mit seinen Foto-Arbeiten die heimliche Schönheit des angeblich Profanen ins Bewußtsein: Stadt-Bilder von BERLIN; eine Wanderung entlang von Plätzen der ehemaligen MAUER.
Der Maler Wolfgang Mattheuer brachte 1977 ein Bild zur Ausstellung, das eine Sehnsuchts-Mythologie darstellt: Im Himmel über der Landschaft des Vogtlandes, seiner Heimat, schwebt eine schöne und übergroße Glücksgöttin, sie lächelt und winkt und hält in den Händen Luftballons.
Ich weiß das Bild noch heute fast auswendig. Unter ihr sehen wir eine dicht besiedelte mitteldeutsche Landschaft, in großzügigen Hügelwellen gelagert, durch deren Mitte windet sich eine Autobahn zur Tiefe des Horizontes. Irgendwo hinter den grünen Hügelketten liegt das gelobte weiß-blaue Bayern mit wohlschmeckenden Biersorten und soliden Autos. Schönes Wetter, blauer Himmel und kleine Wölkchen verstärken die Zuversicht und Glücksverheißung.
Mattheuer malte dieses Bild etwa im 16. Jahr des Mauerbaus. Es ist eine freundliche Persiflage und enthält nichts von dem schwer lastenden Druck, den nicht nur ich während der lang andauernden Periode des Kalten Krieges gespürt habe.
Ob man es nun genau gewusst oder nur unklar empfunden hat, Tatsache ist, dass wir in Potsdam am Rande der „Vier-Mächte-Stadt Berlin“ im Epizentrum des Taifuns zu leben hatten, eines Propaganda-heulenden Ungetüms, das vom Zusammenprall der kontinentalen östlichen Kaltluft und den feuchtwarmen Lüften des atlantischen Bündnisses angetrieben wurde. Es drehte sich um das, allerdings durchaus nicht unschuldige Auge der „Freien Stadt Berlin (West)“. Für uns, die wir direkt am Rande von West-Berlin lebten, dem heiligen Kleinod der „freien Welt“, war es notwendig, ein dickes Fell zu haben in den ideologischen Stürmen. Und es scheint nachträglich als gesicherte Wahrheit, dass ein Eindringen der „grimmigen Militärmacht“ des Ostblocks in das westliche Schaufenster-Gärtlein bei Todesstrafe verboten war; es hätte die Initialzündung zu einem Atom-Krieg werden können.
Von dem Land, das sich zu jener Zeit DDR nannte, wäre nur eine kontaminierte Fläche übrig geblieben. Und wer weiß, wie es jenseits von Thüringen und dem Vogtland aussehen würde.
Chruschtschow und Kennedy, die damaligen Herrscher der beiden Großmächte, waren sich dessen bewusst. Sie entschieden, die Mauer sei das kleinere Übel. Wollen wir ihnen nicht auch einmal dankbar sein?
Michael Lüder kam 1960 als unschuldiges Baby zur Welt. Den aufgeregten Zeitpunkt des Mauerbaus ein Jahr später, verbrachte er noch ruhig in seinem Kinderbettchen und wird, so hoffen wir, im Schutz seiner Familie gut geschlafen haben. Aber, indem er aufwuchs, wuchs er auch hinein in das Dilemma: Vor seiner Nase lagen zwei Drittel der deutschen Hauptstadt unsichtbar hinter der sogenannten Grenzsicherungsanlage.
Auf dem Stadtplan der Bezirkshauptstadt Potsdam endete die bewohnte Welt genau an der Grenzlinie; auf der Karte waren Straßen, Gebäude, Wohnviertel, Bahnhöfe nicht existent; es sei denn, man hätte sich das weiße Papier selbst mit Buntstiften ausgemalt. Sichtbar, und damit von Realität kündend, war nur der Sendeturm im Forst von Wannsee; noch heute sendet er seine Warnblitze in den Abendhimmel. Wer feine Ohren hatte, konnte manchmal das Rauschen unzähliger Autoreifen hören.
Michael Lüder nennt hier und heute seine fotografischen Bilder Nacht-Räume – Orte an der ehemaligen Berliner Mauer. In einem Schriftstück, das er jüngst zur Selbstvergewisserung seiner Absichten fertigte, bleibt er ganz nüchtern und lässt nicht davon erkennen, was vor dem Fall der Mauer in seinem Innersten für Fragen und Gefühle rumort haben mögen.
Gesichert ist, dass er bald nach dem Fall der Mauer, von 1990 bis 1995 bei den bekannten Fotografen Arno Fischer und Helfried Strauß an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studierte. Und wie wir nun hier betrachten können, mit Gewinn fotografischer Fähigkeiten, die sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten auf das Schönste weiter entfaltet haben. Diese dienen ihm für die Absicht, optisches Zeugnis abzulegen für die verletzten Stadträume von Berlin und den verschwundenen Grenzverlauf, der im Sommer 1961 mit heißer Maschine brutal genäht wurde.
Für seine Belichtungen wählt Michael Lüder Abendstimmungen – und ist damit ganz nahe an der mythischen Qualität, wie er selbst formuliert, die eine Stadt vor der völligen Verdunklung des Himmels annehmen kann. Wir wissen, das hat etwas mit Farbqualitäten und dem Einwirken von städtischer Beleuchtung zu tun, letztlich aber mit unerklärlichen Gefühlswerten, die diese Situation im Übergang zur Nacht in uns Menschen hervorrufen.
Schon der künstlerisch-wissenschaftliche Großmeister der Renaissance, Leonardo da Vinci, mahnt seine Schüler, die Welt zu betrachten in den kurzen 30 Minuten nach Sonnenuntergang. Dann ist der Sonnenschein vergangen, den die Impressionisten so schätzen, der aber manchmal grell und banal auf Menschen und Dingen liegt, weshalb Pan, der antike Schlawiner in den Mittagsstunden zu schlafen liebte. Er wusste, selbst die frischen Nymphen lassen sich in den Stunden der direkten und groben Tagesausleuchtung lieber nicht in den grünen Hainen sehen.
Ich stehe nicht an, die Fotos im Einzelnen zu erklären. Sie sind zum Betrachten da und erschließen sich mit den Unterschriften. Kunst, gelungene Fotografie, ist als solche noch gar nicht da, bevor sie nicht in den Sinnen des Publikums aufblüht. Ich will nur sagen: Mich berühren diese Fotos, sie erinnern daran, dass die Welt, in der wir leben, trotz vertrackter Umstände und mancher Schläge, die wir in ihr empfangen, immer auch schön sein kann. Wir bedürfen der Schönheit, sie lindert den Schmerz, ohne die Wahrheit leugnen zu können.
Ich danke Michael Lüder für seine Fotos und der Landeszentrale für politische Bildung für die Einrichtung dieser Ausstellung. Ihnen allen wünsche ich ein Vergnügen beim Anschauen und einen guten Abend.
Potsdam am 10. November 2009
Peter Rohn
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