Altersarmut sichtbar machen

Ein Gespräch mit Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto

Die Fotografinnen Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto erkunden in einem fotografischen Langzeitprojekt das Leben im Alter mit begrenzten finanziellen Mitteln. Entstanden sind außergewöhnlich intime Eindrücke und Ausblicke zu einem Thema, dass uns alle betrifft. 

Bild aus der Ausstellung "Arm im Alter". Ein Kochtopf hängt vor einem Sonnenfänger
© Stephanie_Neumann

Was bedeutet Fotografie für Sie?

Fotografie ist für uns ein Mittel, die Welt zu entdecken und sichtbar zu machen. Durch unsere Arbeit öffnen sich Türen: Wir können Menschen begegnen, Stimmungen einfangen, Geschichten dokumentieren. Es ist mehr als nur ein Beruf, sondern auch ein Weg, wichtige Themen zu bearbeiten und für andere zugänglich zu machen.

Inwiefern verstehen Sie Fotografie als eine Möglichkeit, politische und gesellschaftliche Themen zu behandeln?

Gesellschaftliche Fragen fotografisch sichtbar zu machen, erfordert Zeit und Nähe. Unsere freien Projekte geben uns die Möglichkeit, uns über lange Zeiträume intensiv mit einem Thema zu befassen. Eine große Wirkung entfalten Fotografien mit der Veröffentlichung. Bis Bilder publiziert werden, ist es ein langer Weg mit vielen Schritten von der Recherche über die fotografische Arbeit bis hin zur Auswahl, Bearbeitung und Gestaltung. In Ausstellungen oder Publikationen können sie Empathie wecken, Diskussionen anstoßen und auch politisches Bewusstsein schaffen.

Sie haben 2019 ein Langzeitprojekt zum Thema Altersarmut begonnen. Wie kam es dazu?

Wir haben beobachtet, dass sich unsere Umgebung verändert hat. Früher sah man kaum Menschen, die Flaschen sammeln oder mit selbstgeschriebenen Schildern vor Supermärkten um Spenden bitten. Heute gehört das zum Alltag. Gleichzeitig werden wir selbst älter, begleiten unsere Eltern in den Ruhestand und fragen uns: Wie sicher ist unsere eigene Zukunft als Freiberuflerinnen? So entstand der Impuls, genauer hinzuschauen.

Arm im Alter
© Foto: Stephanie Neumann
Was bleibt - Arm im Alter

Eine Ausstellung mit Fotografien von Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto

 

Was verstehen Sie unter «Armut»?

Unser Verständnis hat sich stark verändert. Man kann offiziell unter der Armutsgrenze liegen, ohne sich selbst arm zu fühlen. Einige der Menschen, die wir getroffen haben, leben mit wenig Geld, sind aber zufrieden und haben eine positive Haltung. Armut hat nicht nur einen finanziellen Aspekt, sondern hängt stark mit gesellschaftlicher Teilhabe zusammen. Der Begriff «Altersarmut» war oft eine Hürde — viele lehnten ihn für sich ab. Die Formulierung «Leben mit geringen finanziellen Mitteln» hat es besser getroffen.

Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Wir haben beispielsweise einige Monate bei einem gemeinnützigen Verein, der Tafel, geholfen. Doch dort wollte sich niemand fotografieren lassen, Scham und Misstrauen waren groß. Wir fanden unsere Protagonistinnen und Protagonisten über soziale Netzwerke, persönliche Kontakte oder das Anschreiben von Organisationen.

Insgesamt begleiteten wir neun Menschen fotografisch über mehrere Jahre hinweg. Wir führten zudem Interviews und stellten Fragen wie: 

  • Was bedeutet für dich Armut oder Reichtum? 
  • Worauf möchtest du nicht verzichten? 
  • Fühlst du dich eingeschränkt? 

In einigen Fällen führten uns die Antworten auch zu neuen Motiven — Bild- und Textebene beeinflussten sich gegenseitig.

Nach welchen Merkmalen haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

Wir wollten eine möglichst große Bandbreite an Menschen gewinnen — verschiedene Geschlechter, Altersstufen und aus unterschiedlichen Orten in Deutschland. Gemeinsam haben alle, dass sie unter der statistischen Armutsrisikogrenze leben und bereit waren, uns Einblicke zu geben. Jede Person war mindestens zwei Jahre Teil des Projekts. Besonders schwer war, dass drei unserer  Protagonistinnen während der Projektzeit verstorben sind. Das hat uns sehr berührt.

Mit welchen Hoffnungen haben sich die Menschen beteiligt?

Die Menschen, die wir begleitet haben, wussten, dass Altersarmut ein Thema ist, das in die Öffentlichkeit gehört. Manche nutzten die Gelegenheit, ihr Leben zu reflektieren und ihre Erfahrungen zu teilen. Zugleich bestand die Neugier, mitzuerleben, wie ein solches fotografisches Projekt sich entwickelt und Teil davon zu sein.

Blick aus dem Fenster einer Plattenbauwohnung
© Astis Krause
Leben in Würde auch im Alter

Wir sind nicht machtlos gegenüber der Altersarmut. Mit politischem Willen, konkreten Maßnahmen und gegenseitiger Unterstützung können wir dafür sorgen, dass ältere Menschen nicht allein gelassen werden. Denn die Frage, wie wir im Alter leben wollen, betrifft uns alle - früher oder später.

Wie war Ihre konkrete Vorgehensweise?

Wir haben jede Person über längere Zeit individuell begleitet — manche in der Nähe, andere in größerer Entfernung. Wichtig war uns, das Leben im Alltag sichtbar zu machen: in der Wohnung, beim Arztbesuch oder auf Wegen durch die Stadt. Es hing auch davon ab, wie viel Nähe die Menschen zuließen und was sie uns zeigen wollten. In regelmäßigen Abständen tauschten wir Fotografinnen uns über Bilder und Interviews aus und entwickelten das Projekt so Schritt für Schritt weiter.

Was wünschen Sie sich?

Wir möchten Denkanstöße geben egal ob Menschen selbst betroffen sind oder nicht. Uns geht es darum, Altersarmut sichtbar zu machen, Empathie zu wecken und einen Austausch anzuregen. Gleichzeitig kann unsere Arbeit ein Impuls sein, sich selbst in Bezug auf das Thema zu hinterfragen, denn letztlich kann Altersarmut jede und jeden betreffen.

Die Fotografinnen Stephanie Neumann, Astis Krause und Julia Otto
© BLPB
Julia Otto

Julia Otto ist freiberufliche Fotografin im Raum Berlin. Sie erlernte das Fotografenhandwerk, studierte Fotografie in Potsdam und schloss ihr Studium mit dem Meistertitel ab. Seit 2005 realisiert sie Auftragsarbeiten in den Bereichen Corporate und Portrait und setzt sich in freien Projekten mit gesellschaftlichen Themen der Gegenwart auseinander. 

Im Zentrum ihrer Arbeit stehen der Mensch und sein Lebensumfeld. Nach dem Studium an der Ostkreuzschule für Fotografie ist sie seit 2024 auch Fotoredakteurin.

Astis Krause

Astis Krause absolvierte nach einer Ausbildung im Fotografenhandwerk das Studium Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Fachhochschule Hannover sowie ein Praktikum bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Fotografin lebt in Strausberg und fotografiert Portraits und Reportagen für Unternehmen und Institutionen in Berlin, Brandenburg und überregional. Neben der Auftragsfotografie realisiert sie freie fotografische Projekte.

In allen Bereichen steht der Mensch im Mittelpunkt.

Stephanie Neumann

Stephanie Neumann ist Fotografin und Interface Designerin (M. A.) aus Berlin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit persönlichen und kollektiven Erinnerungsräumen sowie der Transformation urbaner und sozialer Kontexte. Neben ihrer freien Praxis arbeitet sie in Agenturen in Berlin, Frankfurt und New York, war an Hochschulen wie UdK Berlin und FH Potsdam tätig und verbrachte einen Forschungsaufenthalt am Microsoft Research Lab in Cambridge. 

Seit 2017 entwickelt sie das Projekt visitmytent, das Einblicke in die Arbeitswelten von Kreativschaffenden eröffnet.

 

BLPB, September 2025

Schlagworte

Bewertung
Noch keine Bewertungen vorhanden.

Neuen Kommentar hinzufügen

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.