Es vergeht kein Monat, da nicht irgendwer die Werte der Gesellschaft, der Zivilisation, des christlichen Abendlandes in Gefahr sieht und den Staat aufruft, sich zu ihrem Schutze aufzuraffen und Zeichen zu setzen. Ein hoher Staatsbeamter, der es eigentlich besser wissen müsste, definierte vor einiger Zeit den diesbezüglichen Auftrag des Staates:
Der demokratische Staat beruht auf Werten. Die Aufgabe des Staates ist es, dort die Orientierung an demokratischen Werten zu ergänzen, wo Familien und gesellschaftliche Organisationen versagen oder unzureichend sind.“ (Karsten D. Voigt, Werte und Religion, Berliner Zeitung, 12.4.2005)
Ach, hätte er doch vorher in das Grundgesetz geschaut. Dort sind die Menschen- und Bürgerrechte als Grundrechte gesetzt, welche als unmittelbar geltendes Recht Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung binden (GG Art. 1(3)). Von Werten ist nicht die Rede. Aber man kann, wie weiland Innenminister Benda bekannte, von einem Beamten nicht verlangen, tagtäglich mit dem Grundgesetz unterm Arm herumzurennen.
Die folgende Replik darauf macht klar, was des Staates und was der Gesellschaft ist, wenn es um Freiheiten und Werte, Recht und Gesetz geht. Sie ist umso bedeutsamer, als sie nicht nur um Klarheit in der Sprache bemüht ist, sondern um Aufklärung in einer der Sache angemessenen historischen Dimension.
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine pluralistische Demokratie. In ihr gelten keine Werte, sondern Gesetze. Die Bürger sind frei zu tun, was sie für richtig halten, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen. (...) Jeder, der hier lebt, weiß das. In den Augen vieler Strenggläubiger der unterschiedlichsten Richtungen ist genau das das zentrale Gebrechen dieses Landes. Sie wollen Einigkeit über Werte. Es gibt sie aber nicht, und wir sollten jeden Augenblick genießen, in dem es sie nicht gibt, denn wenn es sie gibt, ist sie mit Gewalt, mit Mord und Totschlag hergestellt worden. (...) Der wichtigste Kampf um Anerkennung ist nicht der um Anerkennung unserer Werte, sondern um die des Gesetzes, das diese Auseinandersetzung regelt.“
Die Gesellschaft kann über Werte diskutieren, aber sie kann die Mitglieder und Teile der Gesellschaft nicht darauf verpflichten, schon gar nicht über ihre Institutionen. Dort gelten allein Recht und Gesetz.
(Arno Widmann, Kampf um Anerkennung, Berliner Zeitung, 12.4.2005)
Es komme darauf an, wird uns erklärt, unsere Werte deutlicher zu machen und die neuen Mitbürger dazu zu bringen, sie zu akzeptieren. Nichts falscher als das. Der Rechtsstaat, in dem wir leben, ist entstanden aus der Erfahrung heraus, dass Staaten ihren Bürgern keine Wertvorstellungen aufzwingen dürfen. Die Freiheit der Religion, der Meinung und die des Erwerbs hängen eng mit einander zusammen, und es ist zum Schaden aller, wenn der Staat sich in diese Sphären einmischt. Diese Freiheiten zu sichern, ist seine oberste Aufgabe. Er tut das nicht, indem er aus ihnen eine Religion macht, sondern indem er ihre freie Betätigung – soweit sie nicht die freie Betätigung anderer stört – ermöglicht. (...)
Die Zeiten, in denen bei uns in Europa Recht und Gesetz galten, in denen die Schwachen geschützt und die Starken zur Kasse gebeten wurden, waren kurze Momente. Prägend für die europäische Geschichte waren ganz andere Phasen. Wir haben jeden Grund, uns darüber zu freuen, dass es in Europa seit ein paar Jahrzehnten (...) aufwärts geht in Sachen Demokratie. Es gibt aber überhaupt keinen Anlass, uns für überlegen und gegenüber Rückschlägen für gefeit zu halten. (...) Als der ehemalige Bundeskanzler Kohl sich weigerte, die Namen seiner Finanziers zu nennen, da stützte er sich nicht aufs Gesetz, sondern er brach es, sich auf eine Gewohnheit stützend, die er deutsch „Ehrenwort“ nannte, die italienisch „omertà“ genannt wird und als das oberste Gesetz der Mafia gilt. Kohl stellte seinen Ehrencode über das Gesetz. Diese Art von Parallelgesellschaft müssen wir brechen. Nicht mit unseren Ehrencodes, unseren Gewohnheiten, sondern nur und ausschließlich mit dem Gesetz.“ (Arno Widmann, Gesetz, keine Werte, Berliner Zeitung, 23.11.2004)
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