Die angewandte Aufklärung

Ralf Dahrendorf

Der entscheidende Grundgedanke der Aufklärung ist der Bruch mit den fraglosen Traditionen, in diesem Sinne der Weg in die Mündigkeit. Institutionell bedeutete dies in Europa die Trennung von Staat und Kirche. Sozial bedeutete es die Lockerung der lokalen, familiären, religiösen und anderen Primärbindungen sowie vor allem den Zweifel an der Gottgegebenheit der überlieferten Ungleichheiten. Geistig hieß Aufklärung die Abkehr von allen Autoritäten, den radikalen Neubeginn des Fragens.

Selbst wenn dieser Weg zuweilen durch dialektische Schleifen zu den Autoritäten zurückführen sollte, musste er doch ein mündiger Weg sein, Erkenntnis und nicht Glaube; nicht einmal Hegel konnte Kant ungeschehen machen. All dies hat in Europa seinen Anfang genommen. Es ist der geschichtsträchtige Inhalt der zweieinhalb Jahrhunderte zwischen der Reformation und der Französischen Revolution. All dies ist aber in Europa bis heute halbvollendet geblieben. (...) Amerika dagegen hat den Gedanken der Aufklärung von Anfang an ernst genommen. Man kann sagen, dass er das Kriterium dafür abgab, wer oder was in das Land importiert wurde oder nicht. (...) Es wirkten die Ideen, die in das Bild der Mündigkeit paßten, also Kant (oder Hume) und nicht Hegel.

(...)

Ein Zeugnis dieses selektiven Imports europäischen Denkens mag man in der Tatsache sehen, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten seit langem schon ein bemerkenswert eindeutiges Bild ihrer eigenen Gesellschaft haben. Alle Elemente dieses Selbstbildes sind ihrem Ursprung nach europäisch; aber während diese in Europa selbst in ein schwer entwirrbares Knäuel ungezählter Fäden verwirrt sind, schließen sie sich in Amerika wie selbstverständlich zu einem einzigen Strang zusammen.

Es dürfte in Europa kaum ein Land geben, in dem sich so viele Menschen so einig darüber sind, was ihr Land und ihre Gesellschaft auszeichnet und von anderen unterscheidet. Noch weniger eindeutig sind in der Alten Welt die aus dem sozialen Selbstbild erwachsenden Vorstellungen vom Ort und Auftrag des eigenen Landes in der Welt. Beides, das Bild der eigenen Gesellschaft und die Vorstellung ihres Auftrages in der Welt, ist dagegen vielen Amerikanern fast selbstverständlicher Besitz.

Amerika kommt heute nach Europa; seine Wirkungen sind allerorten zu spüren. Aber der Kern der Entwicklung, die gerne als Amerikanisierung beschrieben wird, liegt doch in einem andersartigen Sachverhalt. Will man die Verschwörersprache beibehalten, die im Verdacht der „Amerikanisierung“, das heißt der Durchdringung Europas mit „fremden Werten“ liegt, so könnte man sagen: Europa erhält heute in abgewandelter Form jene Aufklärung zurück, die es vor zwei Jahrhunderten über den Atlantik geschickt hat; und es mag sie nicht.

Genauer ist es wahrscheinlich, wenn man sagt: Gegen viele innere Widerstände und noch immer beträchtliche Reste des Traditionalismus und Irrationalismus hat sich auch in den Ländern Europas heute die Gesellschaft der angewandten Aufklärung durchgesetzt. Doch kommt für Europa erschwerend hinzu, dass offenbar nur wenige diese Entwicklung gewollt haben. Aus diesem Paradox entsteht der Versuch, einem anderen, den Vereinigten Staaten, die „Schuld“ für sie aufzubürden. Daraus resultiert auch die doppelte Kritik der Modernität. (...) So werden Konservative und Progressive gleich reaktionär; denn sie sind sich einig in der Sehnsucht nach der geschlossenen Gesellschaft der Vergangenheit, das heißt in der Angst vor der Mündigkeit.

(...)

Keine menschliche Gesellschaft ist vollkommen. Keine Gesellschaft gleicht auch nur dem Entwurf einer politischen Theorie, die von der Unvollkommenheit der menschlichen Dinge ausgeht. Stellt man diese Einschränkungen in Rechnung, dann bleibt indes immer noch der Sachverhalt bestehen, dass die amerikanische Gesellschaft das größte Experiment der rationalen Bewältigung der Welt in der Menschheitsgeschichte darstellt.

Das Experiment hat eine schreckliche Seite im Untergang der Indianer, seine düstere Seite im Schicksal der Neger, seine vielen Schwächen in den wiederkehrenden Bewegungen des Anti-Intellektualismus, seine Unvollkommenheiten in den noch immer verbleibenden Resten der unverschuldeten Armut und im Unrecht gegenüber den Halb- und Viertel-Bürgern. Es hat dennoch nicht seinesgleichen an Kühnheit der Konzeption, Beharrlichkeit der Realisierung und auch an Breite des Erfolgs.

(...)

Immer ist der Weg in die Modernität schmerzhaft. (...) Modernität ist nicht gleich Freiheit, sondern kann auch zur Voraussetzung einer in aller früheren Geschichte unbekannten Unfreiheit werden. Aber nur unter den Bedingungen der Modernität, das heißt nur dort, wo alle Menschen gleich in ihren Rechten und mündig in ihrem Verhalten sind, wird die entfaltete Freiheit möglich.

(...)

Bisher hat jene gesellschaftliche Ordnung, die ich hier mit den Begriffen wie „Modernität“, „Rationalität“ oder „angewandte Aufklärung“ zu bezeichnen versucht habe, mehr Hoffnungen enttäuscht als erfüllt. (...) Die neue Gesellschaft ist politisch zweideutig, sie ist unbequem, vielfach ärgerlich, sie ist sich ihrer Sache nicht sicher, ihr fehlen Richtung und Impuls. (...) Wir wissen, dass die liberalen Rezepte der Vergangenheit zu einfach sind für die neue Situation; wir wissen, da manche totalitären Rezepte ihr in fataler Weise angemessen scheinen; wir sehen sogar die Möglichkeit einer Rückkehr zum kopflosen Autoritarismus. (...)

Sozialwissenschaft ist nicht politische Praxis; Erkenntnis kann Entscheidung nicht ersetzen. (...) Wenn wir mehr über die Bedingungen wüssten, unter denen eine traditionale Gesellschaft rationale Formen zu absorbieren vermag, ohne aus einer Abhängigkeit in die andere zu fallen, könnten wir manche bessere Entscheidung treffen.

(Die angewandte Aufklärung, München 1963; Frankfurt/M. 1968, S.190f; 203ff)

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