"Befreiungslüge"

Am 8. Mai 2005 versammelten sich rund 3.000 NPD-Anhänger auf dem Berliner Alexanderplatz, um ihre Sicht auf den 60ten Jahrestag des Kriegsendes kundzutun.

Die Versammlung wurde unter dem Motto, "8. Mai in Berlin: 60 Jahre Befreiungslüge - Schluß mit dem Schuldkult", als Demonstration angemeldet, und nahm damit Bezug auf eine Rede des damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker, der 1985 als höchster Repräsentant der Bundesrepublik erstmals vom 8. Mai als einem Tag der Befreiung gesprochen hatte:

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten.

Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.[dem Tag der sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten]*

Diese viel beachtete Rede markiert in gewissem Sinne den Anfangspunkt einer ganzen Reihe an bis heute geführten Debatten, die letztlich um jene Fragen kreisen, die Weizsäcker angesprochen hatte: Das Spannungsfeld aus Schuld und Täterschaft auf der einen Seite nämlich und aus jenen Opfern auf der anderen Seite, die die Deutschen selbst im Krieg zu betrauern hatten.

Hellmut Diwald (1929 - 1993)
Der Erlanger Professor für Geschichte gilt als eine der einflusstreichsten neurechten und geschichtsrevisionistischen Persönlichkeiten der Bundesrepublik. Neben zahlreichen Abhandlungen über die deutsche Geschichte verfasste er u. a. das zweite Parteiprogramm der rechtsextremen REPUBLIKANER.

In seinen Schriften leugnete Diwald die Kriegsschuld des DRITTEN REICHS und relativierte den Holocaust. In Birkenau, einer Außenstelle des KZs Ausschwitz, habe es nur deshalb Krematorien gegeben, weil hier die natürliche Sterblichkeit besonders hoch gewesen sei, behauptete Diwald beispielsweise.

In ihrem Nachruf vom 2. Juni 93 nannte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Diwald „ein Stück ältestes Deutschland [...] etwas Böses und Aggressives“.

Für Rechtsextremisten lagen schon damals die Antworten auf der Hand. Die Richtung hatte der neurechte Historiker Hellmut Diwald in einem Artikel für die Witikobriefe vorgegeben, als er 1985 in seiner Antwort auf Weizsäcker all jene Stichworte prägte, die noch heute von Alt- und Neonazis zum Thema präsentiert werden:

Die Unverfrorenheit des Versuchs, uns den 8. Mai 1945 als Datum der Befreiung schmackhaft zu machen, wird nur durch die Schamlosigkeit der Begründungen dafür übertroffen. Der 8. Mai scheint des Schicksals sicher zu sein, im Öffentlichen ein Tag der Heuchelei zu werden. [...]

Der 8. Mai 1945 war ein Tag des Elends, der Qual, der Trauer. Deutschland, das deutsche Volk hatten sechs Jahre lang im gewaltigsten Krieg aller Zeiten um die Existenz gekämpft. Die Tapferkeit und Opferbereitschaft der Soldaten, die Charakterstärke und Unerschütterlichkeit der Frauen und Männer im Bombenhagel des alliierten Luftterrors, die Tränen der Mütter, der Waisen, wer die Erinnerung daran zuschanden macht, lähmt unseren Willen zur Selbstbehauptung. [...]

Die Sieger von 1945 erklären, für die Rettung der Humanität einen Kreuzzug gegen Deutschland geführt und gewonnen zu haben. Geführt auch mit den Mitteln eines Bombenkrieges, der das Kind, die Frauen, die Flüchtenden, die Greise genauso als Feind behandelte wie den regulären Soldaten. Der Tag der militärischen Kapitulation der deutschen Armee brachte den Alliierten den Frieden. Abermillionen von Deutschen brachte er die Hölle auf Erden. [...]

Wer im 20. Jahrhundert einen Krieg verliert, wird vom Sieger zum Schuldigen und Verbrecher erklärt. Aber Schuld eines ganzen Volkes für Verbrechen, die es als Volk nicht begangen hat, weil ein Volk keine Verbrechen begehen kann, sondern immer nur der Einzelne? [...]

Für uns ist es eine Gelegenheit, daran zu erinnern, daß die neue Zukunft, die uns von den Siegern 1945 beschert wurde, für unser Reich das Grab und für Deutschland und das deutsche Volk die Katastrophe seiner Zerstückelung bedeutete.
Witikobrief Folge 3, April / Mai 1985

Zunächst fällt auf, dass in der gesamten Argumentation der millionenfache Mord an all jenen Bevölkerungsgruppen Europas, die dem rassistischen Wahn der nationalsozialistischen Ideologie zum Opfer fielen, mit keinem einzigen Wort erwähnt wird. Vielmehr werden Perspektiven angedeutet, die als Großdebatten in ähnlicher Weise auch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit seit Mitte der 80er Jahre beschäftigten:

Das Gedenken an den Holocaust, der am 8. Mai 1945 sein Ende fand, sei heuchlerisch und werde von den alliierten Siegern instrumentalisiert

In einer hoch umstrittenen Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11.10.98 beklagte der Schriftsteller Martin Walser den Umgang der Medien mit dem Thema sowie gewisser Intellektueller - wen er konkret meinte, sagte er nicht -, die sich zu "Hütern und Treuhändern des Gewissens" aufschwängen.

Das Thema "Auschwitz" würde dem einzelnen "jeden Tag in den Medien [...] vorgehalten" und sei letztlich als "Drohroutine" zum "jederzeit einsetzbare[n] Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung" verkommen. Es diene zur "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken", so Walser, ohne wiederum zu konkretisieren, welche Zwecke er meinte. Zum Eklat geriet nicht die Rede selbst, sondern vielmehr die Reaktion des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, der Walser "geistige Brandstiftung" vorwarf und ihm - zumindest latenten - Antisemitismus unterstellte:

Im Klartext heißt das: Die Juden machen aus allem Geld, sogar aus dem schlechten Gewissen der Deutschen. [...] Die Vorstellung, die Juden denken immer zuerst ans Geld und machen aus allem Geld, gehört zum klassischen antisemitischen Repertoire.
Der Spiegel Nr. 49 / 1998

Außerdem, so Bubis im gleichen Interview mit dem Magazin Der Spiegel, liefere Walser Rechtsextremisten, die ansonsten keiner ernst nähme, erst die Munition. Später einigten sich Walser und Bubis, der den Vorwurf der "geistigen Brandstiftung" zurücknahm, aber darauf beharrte, die Rede sei "missverständlich" gewesen. Walsers Rede wurde von der extremen Rechten begeistert aufgenommen, wie die Autoren der Untersuchung "'Endlich ein normales Volk'. Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers" auf breiter Quellenbasis nachweisen.[1] So jubelte der Rechtsextremist Manfred Roeder:

Der 11. Oktober 1998 wird in die Geschichte eingehen. Die Rede von Martin Walser war der Beginn der Befreiung Deutschlands.

Während der Kundgebung zur NPD-Veranstaltung auf dem Berliner Alexanderplatz am 8. Mai 2005 redete Parteichef Udo Voigt von einem "gigantischem Ablenkungsmanöver", von einer "Schuldkult-Show", von einem "psychologischen Krieg" der Sieger "gegen das deutsche Volk", von "Lügnern und Geschichtsfälschern". Er sprach von einer "Umerziehungssuppe", die dazu diene, den "deutschen Arbeiter und die Industrie" zu beherrschen und auszubeuten.

Der Heldenmut deutscher Soldaten sei vorbildlich gewesen, das Leiden des deutschen Volkes unvorstellbar

Illustration auf rechtsextremen Homepages: Opa war in Ordnung! Unsere Großväter waren keine Verbrecher!

Illustration auf rechtsextremen Homepages: Opa war in Ordnung! Unsere Großväter waren keine Verbrecher!

Plakat der im März 2005 verbotenen 'Kameradschaft Tor' (Berlin): Wir gedenken den Opfern des alliierten Holocaust

Plakat der im März 2005 verbotenen 'Kameradschaft Tor' (Berlin): "Wir gedenken den Opfern des alliierten Holocaust"

In dieser Kombination illustrieren beide Slogans die doppelte Strategie, Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern umzudeuten, indem die Schuld der einen geleugnet und die der anderen behauptet wird.

Im März 1995 wurde die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" vom HAMBURGER INSTITUT FÜR SOZIALFORSCHUNG vorgestellt. Über 1.433 präsentierte Fotos aus drei historischen Themengebieten erbrachten den Nachweis, dass die Wehrmacht

1.) während des Partisanenkampfes in Serbien 1941,

2.) die 6. Armee auf ihrem Vormarsch 1941 nach Russland und

3.) die deutsche Besatzung in Weißrussland 1941 - 1944 an einem Vernichtungskrieg

beteiligt war und aktiv an Verbrechen auch gegen die Zivilbevölkerungen teilgenommen hatte. Damit war exemplarisch der Mythos zerstört, nach dem die Wehrmacht als solche nicht an Verbrechen teilgenommen hatte. Diese seien vielmehr von Einheiten aus Polizei und SS hinter der Front begangen worden, so die Überzeugung.

Die Wanderausstellung wurde zwischen 1995 und 1999 in 33 Städten gezeigt, und beinahe überall, wo sie gastierte, begleiteten sie wütende Proteste und Demonstrationen. In Erfurt schmierten Neonazis das Wort "Lüge" auf Ausstellungstafeln, in München versammelten sich einige Tausend Rechtsextremisten jeder Couleur und in Saarbrücken wurde gar ein Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung verübt, bei dem es zu erheblichen Sach- und Gebäudeschaden kam.

Doch die Schau, die mittlerweile unter der irreführenden Bezeichnung "Wehrmachtsausstellung" bekannt geworden war, mobilisierte nicht nur Rechtsextremisten, auch konservative Kreise liefen Sturm. Zur Eröffnung im Münchener Rathaus boykottierte die CSU-Fraktion die Veranstaltung beinahe geschlossen und zog es stattdessen vor, sich vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten zu versammeln.

Das Parteiorgan der CSU, der Bayern Kurier, betitelte am 22.2.97 einen Artikel über die Ausstellung, "Wie Deutsche diffamiert werden", in dem weiter die Rede von einem "moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk" war und den Ausstellungsmachern der "Ehrbegriff" in Abrede gestellt wurde. Auch CDU-Politiker wie die damalige Frankfurter (Main) Oberbürgermeisterin Petra Roth oder Verteidigungsminister Volker Rühe verweigerten einen offiziellen Besuch.

Nachdem Historiker an einer handvoll Bilder nachgewiesen hatten, dass es in der Ausstellung in Einzelfällen zu Fehleinschätzungen gekommen war, erließ das Hamburger Institut für Sozialforschung ein Moratorium und beauftragte eine Historikerkommission mit der Neubewertung des versammelten Materials. In ihrem Abschlussbericht[2] kam diese zu dem Ergebnis, dass von den 1.433 gezeigten Bildern weniger als 20 Fotos falsch zugeordnet worden waren (S. 85), von "Fälschung" könne keine Rede sein. Kritisiert wurde der "unbekümmerte Gebrauch fotografischer Quellen", wie er jedoch in wissenschaftlicher und populärer Praxis "leider sehr verbreitet ist".

Die Ausstellung und die unter großem öffentlichem Interesse vorgetragene Kritik habe das "unfreiwillig sichtbar gemacht" (S. 86). Auf dieser Grundlage empfahl die Kommission eine gründliche Überarbeitung der Ausstellung (S. 92), hielt aber an ihrer Grundaussage fest:

Es ist unbestreitbar, dass sich die Wehrmacht in der Sowjetunion in den an den Juden verübten Völkermord, in die Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen und in den Kampf gegen die Zivilbevölkerung nicht nur 'verstrickte', sondern dass sie an diesen Verbrechen teils führend, teils unterstützend beteiligt war. Dabei handelte es sich nicht um vereinzelte ‚Übergriffe' oder ‚Exzesse', sondern um Handlungen, die auf Entscheidungen der obersten militärischen Führung und der Truppenführer an der Front und hinter der Front beruhten.
Bericht der Kommission, a. a. O., S. 91f.)

Von solchen Erkenntnissen unberührt bleiben die in rechtsextremen Szenen gepflegten Geschichtsmythen. So kommentierte ein Autor der NPD-Zeitschrift Deutsche Stimme nachdem die Ausstellung 2004 eingestellt wurde:

Neun Jahre Verleumdung des deutschen Landsers, neun Jahre der Kriminalisierung des deutschen Offizierstandes und der Satanisierung der Reichsführung bei gleichzeitiger Glorifizierung der Roten Armee und heimtückischer Stalin-Partisanen. Und schließlich neun Jahre geschichtspolitischer Amoklauf und geistige Vergiftung der Enkelgeneration, von der Hunderttausende durch eifernde Linkspädagogen in die Ausstellung getrieben wurden."
Deutsche Stimme Nr. 4 / 2004

Eng verbunden mit dem Mythos vom "tapferen Soldaten" und der "sauberen Wehrmacht" ist der vom "Leiden des deutschen Volkes" während des Krieges und nach seinem Ende. Diwald sprach von einem "Krieg um die Existenz", der sowohl an der Front als auch in der "Heimat" mit "Tapferkeit und Opferbereitschaft", mit "Charakterstärke und Unerschütterlichkeit" geführt worden sei.

Tatsächlich illustriert Diwalds Artikel von 1985 vortrefflich jene rechtsextreme Strategie, durch Akzentuierung der "Leiden" und "Opfer" des "deutschen Volkes" dem vorgeblichen "Existenzkampf" der Deutschen Glaubwürdigkeit zuteil werden zu lassen - eine Argumentation, die unmittelbar auf die nationalsozialistische Propaganda zurückgeht. So rechtfertigte Hitler den Überfall auf Polen, der am 1. September 1939 den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert, in einer Rundfunkansprache gleich nach Kriegsausbruch:

Die deutsche Wehrmacht wird den Kampf um die Ehre und die Lebensrechte des wiedererstandenen deutschen Volkes mit harter Entschlossenheit führen.
Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen. 1932 - 1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil II: Untergang. Dritter Band 1939 - 1940. Leonberg(4) 1988, S. 1307

Der Angriffskrieg, den die Deutschen im September 1939 zunächst gegen Polen führten und später auf ganz Europa ausdehnten, ist die blutige Konsequenz nationalsozialistischer Lebensraum-Ideologie. Vor den Befehlshabern der Wehrmacht, die er versammelt hatte, um sie auf die Westoffensive einzustimmen, sprach Hitler das am 23.11.1939 offen aus:

Man wird mir vorwerfen: Kampf und wieder Kampf. Ich sehe im Kampf das Schicksal aller Wesen. Niemand kann dem Kampf entgehen, falls er nicht unterliegen will. Die steigende Volkszahl erfordert größeren Lebensraum. Mein Ziel war, ein vernünftiges Verhältnis zwischen Volkszahl und Volksraum herbeizuführen. Hier muss der Kampf einsetzen. Um die Lösung dieser Aufgabe kommt kein Volk herum oder es muss verzichten und allmählich untergehen.
Max Domarus: Hitler. A. a. O. S. 1422 

Und auch dass das Volk erhebliche Leiden und Opfer bringen werden müsse, sprach Hitler unmittelbar nach Kriegsausbruch in aller Öffentlichkeit an. In seiner Rede vor dem Reichstag am 1. September 1939 heißt es, verbunden mit der tödlichen Drohung an potentielle "Verräter": 

Wenn ich diese Wehrmacht aufrief, und wenn ich nun vom deutschen Volk Opfer, und wenn notwendig, alle Opfer fordere, dann habe ich ein Recht dazu, [...]

So wie ich selber bereit bin, jederzeit mein Leben für mein Volk und für Deutschland einzusetzen, so verlange ich dasselbe auch von jedem anderen! Wer aber glaubt, sich diesem nationalen Gebot, sei es direkt oder indirekt widersetzen zu können, der fällt! Verräter haben nichts mit uns zu tun!
Max Domarus: Hitler. A. a. O. S. 1316f.

Das Schicksal, das den jüdischen Bevölkerungen Europas im Falle eines "Waffengangs" drohe, hatte Reichskanzler Hitler bereits Monate vor Kriegsausbruch in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1939 angesprochen:

Man bleibe uns also vom Leib mit Humanität. [...] Denn Europa kann nicht mehr zur Ruhe kommen, bevor nicht die jüdische Frage ausgeräumt ist. [...]

Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.
Max Domarus: Hitler. A. a. O. S. 1057f.

Hitler selbst war sich der Brisanz dieser Drohung gegen die "jüdische Rasse" Monate vor Kriegsausbruch wohl bewusst, die in der Lage war, die eigene Propaganda vom "jüdischen Krieg gegen Deutschland" ad absurdum zu führen: Später leugnete er diesen frühen Zeitpunkt vehement, vielmehr habe er die Drohung erst nach Beginn des Polenüberfalls am 1. September 1939 ausgesprochen (vgl. Max Domarus: Hitler. A. a. O. Bd. 4. S. 1663 und S. 1829).

Vor der Folie solcher Äußerungen wird deutlich, in welchem Maße rechtsextreme Agitation unmittelbar auf nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda fußt, wenn sie einerseits die "Tapferkeit" deutscher Landser rühmt, ohne die von ihnen verübten Gräuel anzusprechen, und andererseits die Leiden und Opfer in der deutschen Bevölkerung beklagt, ohne auf die tatsächlichen Kriegsgründe einzugehen und freilich ohne auch nur ein Wort des Mitgefühls und der Trauer für das Schicksal jener Abermillionen Menschen in den Konzentrations- und Arbeitslagern zu verlieren sowie der Zivilbevölkerungen in den angegriffenen Ländern.

Instrumentalisierung?

Seit der Weizsäcker-Rede von 1985 wurden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zahlreich weitere Großdebatten geführt, die allesamt um die Fragen von Schuld und Leid und im weiteren Sinne um bundesrepublikanisches Selbstverständnis vor dem Hintergrund des sog. "Tausendjährigen Reichs" kreisten.

Erinnert sei beispielsweise an den sog. "Historiker-Streit", die "Goldhagen-Debatte" oder aktuell an die Auseinandersetzungen um die Ausführungen des Historikers Jörg Friedrich zur Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten in seiner Untersuchung "Der Brand". Sie alle wurden unter lebhaftem Interesse rechtsextremer Kreise geführt.

Hervorzuheben ist, dass Themen wie das vom "völkischen Antikapitalismus", aber auch historische Themen, wenn sie sich um die Wertung des Dritten Reichs drehen, ureigenstes Territorium des Rechtsextremismus darstellen.

Wo Rechtsextremisten sich hier zu Wort melden, wäre es völlig verfehlt, von "Instrumentalisierung" zu reden. Freilich nutzen Alt- und Neonazis jedoch das öffentliche Interesse, das zu solchen Gelegenheiten aufkommt. Und sie wissen Positionen agitatorisch auszuschlachten, die ihren eigenen Überzeugungen ähneln. Vielmehr darf darüber hinaus getrost davon ausgegangen werden, dass von neurechter wie neonazistischer Seite gezielt Themen und Meinungen in der Öffentlichkeit lanciert werden.

Umso wichtiger ist es, dass die Anerkennung von Ursache und Wirkung des Zweiten Weltkriegs, von Völkermord und nationalsozialistischer Barbarei nicht nur Grundkonsens aller Demokraten bleibt, sondern stets auch dann auf der Tagesordnung der Debatten steht, wenn über historische Themen gestritten wird.

An diesem Punkt ist dem Schriftsteller Martin Walser vehement zu widersprechen: Wenn, wie es regelmäßig geschieht, historische Fragen und darauf aufbauend solche nach dem Selbstverständnis der Bundesrepublik in den Blick der Öffentlichkeit geraten, dann darf vom Holocaust nicht geschwiegen werden.

Denn rechtsextreme Weltanschauung unterliegt in höchstem Maße der Mythenbildung, und hier liegt zugleich ihre Schwäche: Sie ist von Geschichts- und Sozialwissenschaft längstens widerlegt.

 

Jan Buschbom, Violence Prevention Network e.V., 2006

 


 

[1] Vgl. Martin Dietzsch / Siegfried Jäger / Alfred Schobert (Hg.): 'Endlich ein normales Volk'. Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers. Münster 1999

 [2] Omer Bartov, Cornelia Brink, Gerhard Hirschfeld, Friedrich P. Kahlenberg, Manfred Messerschmidt, Reinhard Rürup, Christian Streit, Hans-Ulrich Thamer: Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944". November 2000

 

 

Schlagworte

Bewertung
Noch keine Bewertungen vorhanden.

Neuen Kommentar hinzufügen

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.