Jedem das Seine. Zur Geschichte einer Redewendung

„Jedem das Seine“. Die Liste der Unternehmen, die diesen Slogan zur Produktwerbung einsetzten, ist lang: Nokia, Rewe, Microsoft, Burger King, Deutsche Telekom, Tchibo … Doch nicht nur Handys, Grillzubehör, Software, Kaffee und ähnliche Konsumgüter werden auf diese Weise angepriesen. Auch im politischen Raum findet die Formel Verwendung. Unter dem Motto "Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine" startete die Schüler-Union Nordrhein-Westfalen 2009 eine Kampagne gegen Gesamtschulen.

In einem lesenswerten Beitrag für die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (22. Februar 2010, S. 14-20) beschäftigt sich Frank Brunssen mit der Verwendungsgeschichte der Redewendung „Jedem das Seine“. Der Spruch ist historisch belastet: Ab 1938 wurde er als Inschrift am Haupttor des Konzentrationslagers Buchenwald verwendet. Der typografische Entwurf stammte vom Buchenwald-Häftling Franz Ehrlich, einem studierten Designer und Architekten. Ehrlich war Bauhaus-Schüler und orientierte sich bei der Gestaltung der Buchstaben an der Typografie seines Lehrers Joost Schmidt. Die Gedenkstätte Buchenwald schreibt dazu in einer Ausstellungsankündigung: „Der bewusste Rückgriff auf gerade diese Typografie wendet sich entschieden gegen die nationalsozialistische Weltanschauung und ist eine stille Gegenwehr gegen seine Peiniger.“

Kampagnen mit dem Slogan „Jedem das Seine“ führen heute in aller Regel zu öffentlichen Protesten und werden daraufhin kurzfristig gestoppt. Das Bedauern der Verantwortlichen wirkt dabei durchaus glaubwürdig. Doch seltsamerweise lässt der nächste Fall nicht lange auf sich warten. Ein aktuelles Beispiel: In Tauberbischofsheim findet am 20. März ein Bildungskongress statt. Titel der Veranstaltung: "Chancengerechtigkeit: Jedem das Seine oder allen das Gleiche?" Ganz ähnlich hatte es im letzten Jahr die nordhein-westfälische Schüler-Union formuliert. (Übrigens wird der Kongresstitel nicht in jeder Pressemeldung vollständig wiedergegeben.)

Allerdings: Die Geschichte der Redewendung reicht bis in die Antike zurück. Der Rechtsphilosoph Dietmar von der Pfordten hält den Spruch daher durchaus für zitierfähig.(*) Der Protest gegen die Verwendung der Formel zeuge von „ideengeschichtlicher Unkenntnis des Protestierenden“ (S. 15). Von der Pfordten erwähnt in diesem Kontext ausdrücklich die Proteste gegen einen Handyhersteller.

„Wer eine Gerechtigkeitsformel, die fast 2500 Jahre alt ist, schon durch die kurzzeitige Pervertierung durch ein Terrorregime als nicht mehr zitierfähig ansieht, gestattet dessen geistigem Zerstörungswerk fortzuwirken, anstatt offensiv und aufklärend gegen diese Pervertierung vorzugehen.“

Doch was hat Handyreklame mit ideengeschichtlicher Aufklärung zu tun? Zumindest im Bereich der Werbung ist der Spruch meines Erachtens unangebracht. Matthias Heyl fasst die Gegenargumente (PDF, 5 S.) folgendermaßen zusammen:

„Wo historische Erinnerung (etwa bei den Überlebenden) oder historisches Bewusstsein und Sensibilität vorhanden sind, wird das Wort »Jedem das Seine« unweigerlich Assoziationen an den nationalsozialistischen Terror wachrufen. »Jedem das Seine« - kein Slogan jedenfalls, der in der deutschen Sprache für Werbung taugte. Welches Produkt wäre damit ins rechte Licht gerückt?“

Hinweis:

(*) Der Link zum Text von Dietmar von der Pfordten (rechtsphilosophie.uni-goettingen.de/Vorlesung2SS09.pdf) ist inzwischen nicht mehr verfügbar. GSchultz, 03.07.2011

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