25 Frauen und Männer hatten es geschafft. Sie wollten unbedingt in dieses Seminar. Jetzt saßen sie im "Haus Dahmshöhe", einer Bildungs- und Begegnungsstätte in Fürstenberg (Havel). Drei Tage lang wollten sie über die kommende Bundestagswahl diskutieren. An Flipcharts hingen mit großer, klarer Schrift beschriebene Notizzettel. Überhang-Mandat stand darauf, Wahl-Programm, Stimme, Partei. Auf den Tischen lagen Broschüren in Leichter Sprache.
Ich kam nach der Mittagspause in die Gruppe. In der Landeszentrale ist die Bundestagswahl ein thematischer Schwerpunkt und Inklusion ein zentrales Thema der Landespolitik. Wir wollten mit Menschen sprechen, deren Engagement für die Gesellschaft und deren Teilhabemöglichkeiten von inklusiven Angeboten besonders abhängen.
Die Teilnehmenden waren zwischen 21 und 50 Jahre alt und in unterschiedlichem Maß geistig und körperlich behindert. In ihrem Lebensalltag sind sie auf Betreuer angewiesen. Was mir als erstes auffiel, war die offene, zugewandte Atmosphäre im Raum. Keiner scheute sich, die Meinung offen zu sagen.
Sagen Sie ruhig "normale Menschen"
Eine Vielzahl von Themen brennt ihnen unter den Nägeln: Barrierefreiheit am Bahnhof in Eisenhüttenstadt, der Wunsch nach einer Fußballmannschaft in Stahnsdorf, die auch gegen behinderte Menschen spielt, mehr Unterstützung für die Familie, mehr Arbeitsplätze, Mindestlohn in den Werkstätten, Geld für Konzerte, mehr Material in Leichter Sprache, mehr Seminare wie dieses und Wahlprogramme, die zu einem früheren Zeitpunkt im Jahr in Leichter Sprache erscheinen als bislang. Das sei wichtig, weil sie mehr Zeit für das Lesen benötigten als, ich stocke für einen Moment, während ich dies aufschreibe und denke an die junge Frau aus dem Seminar, die mir zunickte: „Sagen Sie ruhig ‚normale Menschen‘“.
Und auch solche Fragen werden ausgesprochen: Woran erkenne ich, dass ein Politiker die Wahrheit sagt? Woher weiß ich, dass die Kandidaten ihre Versprechen nach der Wahl halten? Welche Partei setzt sich für Behinderte besonders ein?
Ganz wichtig ist es für sie, ernst genommen und gerecht und gleichberechtigt behandelt zu werden.
Ich frage nach. Was meinen Sie mit Gerechtigkeit? Entrüstet erzählen sie, dass viele Freunde und Arbeitskollegen zu Hause bleiben mussten, weil sie vom Chef nicht für das Seminar von der Arbeit freigestellt wurden. Jetzt leuchtet mir auch der Anfang unseres Gesprächs ein, als die Gruppe sagte: "Wir haben es geschafft."
Ich beginne zu verstehen
Ich wende ein, dass nicht behinderte Menschen ebenso den Chef fragen müssen, wenn sie zu einer Weiterbildung wollten. Daraufhin fordert eine Frau umgehend das Recht auf Weiterbildung, ein Recht auf Freistellung. Die anderen stimmen hörbar zu, ein Recht für sich, für ihre Kollegen zu Hause, für nicht behinderte Menschen, für alle! Denn dafür seien sie in erster Linie hier, um weiter zu lernen und zu verstehen.
Auch ich beginne zu verstehen. Diese Frauen und Männer möchten teilhaben. Dafür sitzen sie hier und machen sich auch für die stark, die am 24. September nicht zur Wahl gehen dürfen. In Deutschland sind Menschen, die auf Betreuung in allen Angelegenheiten ihres täglichen Lebens angewiesen sind, grundsätzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das betrifft rund 80.000 Menschen. Auf Bundesebene regelt Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes den Wahlausschluss, auf Länderebene die jeweiligen Landeswahlgesetze.
Zwei Bundesländer haben diese Regelung seit kurzem abgeschafft. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein dürfen seit 2017 auch Menschen mit einer Vollbetreuung auf Landesebene wählen. Einige der Brandenburger Seminarteilnehmer kannten die Gesetze und fragten, wann es in Brandenburg so weit sei. Ja, wann eigentlich?
Und dennoch sitzen sie alle hier. Drei Tage lang, wissensdurstig. Immer wieder sagen sie, dass sie lernen wollen.
Ich frage, was sie sich am meisten wünschen. Die Antwort kommt aus allen Kehlen und ist so grundlegend einfach, dass sie wohl auch deshalb nachklingt: Nichtbehinderte Menschen sollen behinderten Menschen zuhören.
In individuellen Gesprächen haben mir zwei Männer und drei Frauen aus der Gruppe die Möglichkeit gegeben, Fragen zu stellen - und zuzuhören. Die nachstehenden Interviews fassen die Unterhaltung zusammen.
Gespräche zur Bundestags-Wahl
in Leichter Sprache
Nadine, Roman, Kathrin, Jörg und Janine
wollen am 24. September zur Bundestags-Wahl.
Sie brauchen Informationen in Leichter Sprache.
Darum gehen sie zu einem Seminar in Leichter Sprache.
Roman (26) und Jörg (31)
Roman und Jörg sind Freunde.
Sie wohnen in Teltow im Wohn-Heim.
Und arbeiten in einer Werk-Statt für behinderte Menschen.
Jörg arbeitet im Landschafts- und Garten-Bau.
Roman ist Montage-Arbeiter.
Beide sind in der Computer-Gruppe des Wohn-Heims.
Warum sind Sie bei dem Seminar dabei?
Roman:
Ich interessiere mich für die Wahl.
Und Jörg auch.
Jörg:
Ja. Das stimmt.
Ich möchte mehr lernen.
Welches Thema finden Sie wichtig in der Politik?
Roman:
Ich möchte, dass etwas für Flüchtlinge gemacht wird.
Die kommen aus dem Krieg.
Und brauchen Hilfe.
Jörg:
Ich möchte, dass der Flug-Hafen in Berlin fertig wird.
Es dauert zu lange.
Waren Sie schon einmal wählen?
Roman:
Ich war schon wählen.
Mit meinem Vater.
Das war auch zum Bundes-Tag.
Ich bin für Merkel.
Und er...
Jörg (Er will nicht, dass Roman weiter spricht.):
Das will ich nicht sagen.
Ist ein Wahl-Geheimnis.
Ich war auch mit meinem Vater wählen.
Wir haben den Bürger-Meister gewählt.
Was wünschen Sie sich von den Politikern?
Roman und Jörg:
Wir möchten mehr Informationen in Leichter Sprache.
Und früher. Die Wahl-Programme kommen so spät.
Und die Politiker sollen uns zuhören.
Was würden Sie gern verändern?
Roman:
Ich spiele Fuß-Ball in Schulzendorf.
Ich bin der Kapitän.
Wir wollen ein richtiges Stadion.
Einen großen Platz.
Jörg:
Und dann noch das mit der Mannschaft.
Roman:
Ja. Wir haben keine andere Mannschaft, die gegen uns spielt.
Der andere Trainer sagt, wir sollen gegen uns selbst spielen.
Das finde ich nicht in Ordnung.
Jörg:
Ich bin im Bewohnerschafts-Rat.
Wenn die anderen etwas wollen, kommen sie zu mir.
Ich sage es dann der Chefin.
Ich möchte, dass alle zum Seminar können, die wollen.
Roman:
Ja, das ist ungerecht.
Wir sind ja auch hier.
Jörg:
Und ich möchte mehr Geld.
Zum Beispiel für Konzerte.
Wir waren im Rock am Ring.
Das war richtig gut.
Roman:
Ja, das war gut.
Wir arbeiten, aber wir haben zu wenig Geld.
Was ist wichtig für Sie?
Jörg und Roman:
Die Werk-Statt. Musik.
Vielen Dank für das Gespräch.
Kathrin (37) und Nadine (33)
Kathrin und Nadine sind beste Freundinnen.
Sie wohnen in der Wohn-Stätte in Kleinmachnow,
am Wochen-Ende bei der Familie.
Sie arbeiten in einer Werk-Statt für behinderte Menschen in Teltow
und verpacken verschiedene Produkte.
Warum sind Sie bei diesem Seminar?
Nadine:
Ich war letztes Jahr mit meinem Vater wählen.
Jetzt möchte ich mehr lernen.
Kathrin:
Ich auch.
Was wünschen Sie sich von den Politikern?
Kathrin:
Mehr Lohn, damit wir uns was kaufen können.
CDs oder Konzert-Karten.
Nadine:
Ja. Wir finden Helene Fischer gut.
Ich arbeite von 8 bis 15 Uhr und Kathrin von 8 bis 14 Uhr.
Aber es bleibt so wenig Geld übrig.
Was ist wichtig für Sie?
Nadine:
Familie. Meine Mutter ist an Krebs gestorben, vor fünf Jahren.
Daran knabbern wir immer noch.
Ich möchte mehr Geld.
Dann kann ich der Familie helfen
und wir können mal in den Urlaub fahren.
Die Frau von meinem Bruder hat keine Arbeit.
Sie sucht. Aber sie findet keine.
Die Kinder verstehen nicht,
dass sie nicht mal etwas kaufen kann.
Kathrin:
Ja, mehr Geld. Das will ich auch.
Was möchten Sie noch unbedingt sagen?
Nadine:
Politiker sollen halten, was sie versprechen.
Kathrin:
Die hören Behinderten nicht zu.
Sie sollen aber zuhören.
Vielen Dank für das Gespräch.
Janine (21)
Janine wohnt in Potsdam.
Sie lernt und arbeitet im Berufs-Bildungs-Bereich
in einer Werk-Statt für behinderte Menschen.
Warum wollten Sie zum Seminar?
Janine:
Ich interessiere mich von klein an für Politik.
Eine Freundin von meiner Mutter hat das Seminar gesehen
und mir davon erzählt.
Ich sollte gar nicht herkommen,
weil ich zuerst keine Frei-Stellung von der Werk-Statt bekommen habe.
Wir hatten einen Groß-Auftrag.
Die Agentur für Arbeit hat es dann genehmigt.
Was für einen Groß-Auftrag?
Janine:
Na Schilder kleben. Da müssen wir alle arbeiten.
Aber ich habe gekämpft und jetzt bin ich hier.
Es gibt zu wenig Bildung für uns.
Im Bildungs-Bereich soll es viel mehr geben
und nicht immer Groß-Aufträge.
Warum interessiert Sie das Thema Wahl?
Janine:
Ich habe mal im Kirchen-Rat bei einer Wahl mitgemacht.
Aber das haben sie nicht gut erklärt.
Das war alles in schwerer Sprache.
Politik interessiert mich.
Ich lese jeden Tag Zeitung und sehe Nachrichten.
Manchmal verstehe ich nicht alles.
Was wünschen Sie sich von den Politikern?
Janine (lacht):
Viel. Zum Beispiel ein Recht auf Frei-Stellung für Weiter-Bildung.
Viele konnten nicht kommen,
weil sie nicht frei bekommen haben.
Und Mindest-Lohn. Das ist ganz wichtig.
Wir kriegen zu wenig Geld und gehen den ganzen Tag arbeiten.
In Nordrhein-Westfalen gibt es viel mehr für Behinderte.
Das weiß ich von einer Freundin.
Das wünsche ich mir auch in Brandenburg.
Und die Politiker sollen uns zuhören.
Das neue Bundes-Teilhabe-Gesetz hat alles kompliziert gemacht.
Aber vielleicht gibt es auch einiges Gutes.
Was ist Ihnen wichtig?
Janine:
Meine Familie. Meine Schwester.
Ich hätte gern mehr Freunde.
Mehr Barriere-Freiheit für Roll-Stuhl-Fahrer,
mehr Angebote in Sport und Kultur.
Warum mehr Barriere-Freiheit?
Janine:
Weil ich Freunde im Roll-Stuhl habe.
Und die haben ein großes Problem, wenn sie mal weg wollen.
Was ist Ihr größter Wunsch?
Janine:
Ich will FaMI werden.
Was heißt das?
Janine:
Na, Fach-Angestellte für Medien- und Informations-Dienste.
Ich will im Archiv arbeiten.
Aber ich bekomme wegen meiner Behinderung keine Ausbildung.
Und eine Arbeits-Stelle auch nicht.
Meine Interessen sind in der Werk-Statt gar nicht wichtig.
Vielen Dank für das Gespräch.
Vom 7. bis 9. Juni fand in der Bildungs- und Begegnungsstätte „Haus Dahmshöhe“ ein Seminar zur Bundestagswahl in Leichter Sprache statt. Die Gespräche wurden dort geführt. Die Fotorechte liegen bei der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Landesverband Brandenburg e.V.
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Kommentare
KommentierenWahlrecht in Brandenburg
Eigentlich total normal
Nach jahrelangem Kampf von Betroffenen wollen SPD und Linke das aktive Wahlrecht für alle Behinderten öffnen. Brandenburg wäre das erste Ostland, das Diskriminierung beim Urnengang abschafft. (PNN, 27.04.2018)
Politische Teilhabe ermöglichen
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