Gesehen werden — Fotografie und ihre Debatten, Grenzen und Potenziale für die politische Bildung

Ein Beitrag von Historikerin Miriam Zlobinski

Das Thema Altersarmut wird in den Medien beständig mit Flaschensammlern und älteren Menschen bebildert, die sichtlich gebeugt auf dem Weg zum Supermarkt sind oder gar auf der Straße betteln müssen. Doch im Alltag der meisten Menschen drückt sich Armut anders aus. Sparsam zu leben und zu versuchen, trotz allem das Beste aus dem Leben zu machen, ist eine Stärke. Hier setzt das Projekt der Fotografinnen Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto an.

Fotografie aus der Ausstellung "Arm im Alter"
© Julia Otto

Die Fotografie besitzt eine einzigartige Kraft, gesellschaftliche Wirklichkeiten sichtbar zu machen und gesellschaftspolitische Debatten anzustoßen, die unser aller Leben beeinflussen. Fotografie als Medium, dessen Aufnahmen allgemein zugänglich sind und emotional wirken, kann ein Bewusstsein für gesellschaftliche Themen und Anliegen schaffen und zur Auseinandersetzung mit ihnen anregen. 

Doch wie genau wirkt Fotografie in der politischen Bildung und welche Rolle spielen dabei Bilder, die Armut zeigen?

Anspruch und Entsprechung — die Geschichte der Fotografie gesellschaftlicher Wirklichkeit

Mit der Fotografie entstand im 19. Jahrhundert eine neue Möglichkeit der Weltbetrachtung und Kommunikation. Fotografien wurden als Belege von realen Ereignissen und Zuständen angesehen und etablierten sich infolgedessen als Element für öffentliche Debatten und politische Forderungen. Fotos sind bis heute und mehr denn je allgegenwärtig. Ereignisse von globaler Bedeutung ebenso wie familiäre Feierlichkeiten — all das wird in Form von Fotografien und Filmen festgehalten. 

Die Bilder vermitteln uns Wissen und unterstützen unsere Vorstellungen, unsere Wünsche und Forderungen. Wir wissen genau, wie es in anderen Ländern aussieht, ohne selbst dorthin reisen zu müssen. Wir kennen die Gesichter zahlloser Personen, die wir nie persönlich getroffen haben. Durch die Verbreitung von Fotos wird das, was eine einzelne Person gesehen und fotografiert hat, auch den Abwesenden zugänglich gemacht.

Armut ist ein hochaktuelles Thema unserer Gesellschaft. Die Wahrnehmung von Armut hat dabei eine lange Geschichte, die verschiedene Ansätze der Darstellung hervorgebracht hat. Besonders bekannt wurden Projekte aus den USA von Jakob A. Riis in den New Yorker Slums der 1880er und 1890er Jahre sowie von Lewis W. Hine in den Stahlwerken von Pittsburgh und anderen Fabrikationsstätten im 20. Jahrhundert. Sie fotografierten die harten Arbeitsbedingungen, Verelendung ebenso wie Kinderarbeit. 

Mit den Veröffentlichungen der Bilder verbanden die beiden Fotografen die Hoffnung auf Änderung der Zustände und sozialreformerische Ideen. Sie unterstützten Wohlfahrtsorganisationen und verwandelten damit ihre Fotografien von einem reinen Abbild zu einem Element der politischen Forderung.

Die Bilder schaffen bei ihrer Betrachtung Aufmerksamkeit für ein Thema und regen womöglich an, sich selbst einzubringen. Damit spricht man der Fotografie eine mächtige Rolle zu: Sie mache Missstände sichtbar, die sonst womöglich im Verborgenen blieben. Indem das fotografierte Wissen über den Alltag und die Lebenssituationen von Menschen weitergegeben wurde, kann gesellschaftliche Wirklichkeit auch in ihren Unterschieden zwischen Armut und Wohlstand oder über andere gesellschaftliche Ungleichheiten und Widersprüche aufklären. Dabei spielen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eine wichtige Rolle. 

Zwar können Bilder beispielsweise Armut, Ausgrenzung oder soziale Ungleichheit sichtbar machen. Jedoch bleibt die Frage, auf welche Art und Weise dies erreicht werden kann. Wie kann eine Darstellung erfolgen, ohne die Betroffenen bloßzustellen und dabei deren Würde zu wahren? Wie arbeiten Fotografen und Fotografinnen, um Bilder zu schaffen, die uns ansprechen und auf die wir reagieren können?

Arm im Alter
© Foto: Stephanie Neumann
Was bleibt - Arm im Alter

Eine Ausstellung mit Fotografien von Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto

 

Die heutige Rolle der Fotografinnen und die Macht der Bilder

Im 21. Jahrhundert erfährt die kritische Fotografie der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Weiterentwicklung durch Überlegungen zur Macht der Bilder. Neben der Möglichkeit mittels Fotografien Forderungen zu formulieren und zu untermauern, rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie es den gezeigten Personen mit den Bildern ergeht. Das Zeigen einer Person soll nicht ausgrenzen, vielmehr widerspiegeln die Arbeitsweise der Fotografinnen und Fotografen deren eingeforderte Fürsorge und Offenheit. Hier wird nicht nur auf eine Lebenswirklichkeit geschaut, sondern in Gesprächen und Formen der Zusammenarbeit eine Repräsentation auf Augenhöhe verfolgt. 

Heute nehmen sich Fotografinnen und Fotografen verstärkt als Teil eines Kollektivs wahr, sowohl in der Zusammenarbeit untereinander als auch im Umgang mit ihrem jeweiligen Gegenüber. Die Fotografinnen und Fotografen kooperieren eng und sprechen über das Vorgehen des Fotografierens mit den porträtierten Personen. Fotografien der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind damit Dokumente von Beziehungsgeflechten, in denen nun verschiedene Stimmen zu Wort kommen. 

Diese Arbeitsweise ist für mehrere Punkte zentral, zum einen für ein Mitspracherecht der fotografierten Personen und zum anderen für eine erweiterte Wahrnehmung abseits von geltenden Stereotypen und Vorurteilen.

Das Thema Altersarmut wird in den Medien beständig mit Flaschensammlern und älteren Menschen bebildert, die sichtlich gebeugt auf dem Weg zum Supermarkt sind oder gar auf der Straße betteln müssen. Doch im Alltag der meisten Menschen drückt sich Armut anders aus. Sparsam zu leben und zu versuchen, trotz allem das Beste aus dem Leben zu machen, ist eine Stärke.

Blick aus dem Fenster einer Plattenbauwohnung
© Astis Krause
Leben in Würde auch im Alter

Wir sind nicht machtlos gegenüber der Altersarmut. Mit politischem Willen, konkreten Maßnahmen und gegenseitiger Unterstützung können wir dafür sorgen, dass ältere Menschen nicht allein gelassen werden. Denn die Frage, wie wir im Alter leben wollen, betrifft uns alle - früher oder später.

Hier setzt das Projekt der Fotografinnen Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto an. Ihr fotografisches Langzeitprojekt «Was bleibt — Arm im Alter» nähert sich dem Leben im Alter mit begrenzten finanziellen Mitteln. Die Fotografinnen begleiteten dafür seit 2019 neun Frauen und Männer in ihrem Alltag. Die Bilder der drei Fotografinnen ermöglichen es uns, verschiedene Menschen als Gegenüber zu betrachten, ihnen in die Augen zu schauen. Im Zusammenspiel mit den ebenfalls präsentierten Äußerungen der Porträtierten können wir in die Wohnräume blicken, entdecken hier und da uns bekannte Objekte, sehen Lebenswirklichkeiten und Schicksale. 

Zugleich sind die Bilder Ausdruck derzeit erlebter und gelebter Altersarmut im Land Brandenburg und darüber hinaus. Sie dokumentieren die oftmals unsichtbare, mit Scham und Ausgrenzung behaftete Situation und eröffnen uns damit überhaupt erst einen Zugang.

Gesellschaftspolitisches Potenzial und begrenzte Macht der Bilder

Die drei Fotografinnen schaffen durch ihren aufmerksamen Umgang mit der Lebenswirklichkeit eine sehr persönliche Ebene für ein wichtiges gesamtgesellschaftliches Thema. In ihren Bildern ist Armut nicht auf den ersten Blick sichtbar. Die Stärke ihrer Arbeit liegt vielmehr darin, vertraute Momente und eine einfühlsame Atmosphäre zu schaffen. Dabei gerät in den Hintergrund, wer welches Bild erstellt hat. Mit ihrer Fähigkeit, die gewonnenen Einsichten fotografisch darzustellen, eröffnen sie uns eine veränderte, neue Wahrnehmung. Ihre Bilder sind zugleich in die Geschichte der Fotografie gesellschaftlicher Wirklichkeit eingebettet, die sich stets um Authentizität, Empathie und kritische Reflexion bemüht.

Doch auch hier gibt es Grenzen und bestimmte Dinge, die unsichtbar bleiben. So können die Bilder beispielsweise nur einen begrenzten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit der fotografierten Personen zeigen und sind keine vollständige Darstellung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge.

Die Bilder von Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto regen zum Gespräch und zur Auseinandersetzung an. Auch hängt die Art und Weise, wie das betrachtende Publikum auf die Bilder reagiert, von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen ins besondere die jeweiligen Erfahrungen sowie die Geduld, den stillen Bildern zuzuhören.

Bild aus der Ausstellung "Arm im Alter". Ein Kochtopf hängt vor einem Sonnenfänger
© Stephanie_Neumann
Altersarmut sichtbar machen

Ein Gespräch mit Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto

 

Bildung und Bilder

Die Kunst ermöglicht einen besonderen Blick auf gesellschaftliche Vorgänge, der nicht den vorhandenen Stereotypen folgt. Und Kunst positioniert sich. Die drei Fotografinnen Astis Krause, Stephanie Neumann und Julia Otto widmen sich in ihrer Arbeit dem Thema Altersarmut im Bewusstsein seiner politischen und gesellschaftlichen Relevanz. Sie nehmen mit ihrer Arbeit Stimmungen und Zusammenhänge wahr, die anderen verborgen bleiben. Ihre Bilder erinnern uns daran, dass Sichtbarkeit nicht nur eine Frage der Abbildung, sondern auch angenommener Verantwortung ist.

Miriam Zlobinski für BLPB, September 2025
Über die Autorin

Miriam Zlobinski ist Historikerin. In ihrer Arbeit untersucht sie die Schnittstellen zwischen Journalismus und kollektiver Erinnerung sowie den visuellen Ausdruck von Demokratie.

Als freie Kuratorin realisiert sie Ausstellungen zur historischen und zeitgenössischen Fotografie. Darüber hinaus lehrt sie an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis an der Hochschule Hannover, an der Ostkreuzschule für Fotografie sowie an der Universität der Künste Berlin.

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