Klimawandel und Demokratie

»Der Klimawandel passt nicht zur menschlichen Intuition«

Wieso reagieren Politik und Gesellschaft so zögerlich auf die Erderhitzung? Und bedeutet der Klimawandel vielleicht das Ende der Demokratie? Ein Interview mit dem Soziologen Ortwin Renn.

Martina Weyrauch und zwei Kinder schauen in das Buch "Deutschland 2050"
© BLPB
"Deutschland 2050" ist eine aufrüttelnde Zeitreise in die Zukunft. Auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse aus zahlreichen Forschungsfeldern schildern Nick Reimer und Toralf Staud, wie wir in dreißig Jahren arbeiten, essen, wirtschaften und Urlaub machen. Wie sich unsere Landschaft, unsere Wälder, unsere Städte verändern. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat uns das Interview mit Ortwin Renn freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Ortwin Renn hat seit seit vielen Jahren über den Umgang moderner Gesellschaften mit Risiken geforscht. Das Potsdamer Institut für Nachhaltigkeitsforschung ist eine der ersten Adressen, wenn es um Krisen geht und um Lösungen, um den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu mehr ökologischer Verträglichkeit. Es gibt wohl kaum jemand Besseren für ein Gespräch darüber, was die Politik mit dem Klimawandel macht – und der Klimawandel mit der Politik.

Herr Professor Renn, wird Deutschland 2050 noch eine Demokratie sein?

Ich bin Optimist – deshalb glaube ich, die Antwort ist »Ja«. Aber ich bin sicher, dass die Demokratie in den kommenden Jahrzehnten stärker unter Beschuss kommen wird. Es ist jedenfalls nicht selbstverständlich, Demokratie langfristig zu erhalten. Zugleich gehe ich davon aus, dass die demokratischen Kräfte und die demokratischen Traditionen, die wir im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte entwickelt haben, stark genug sind, um die Anfeindungen abzuwehren. Aber es wird mit Sicherheit kein einfacher Kampf.

Kann die Demokratie das Klimaproblem lösen?

Das ist eine andere Frage. Wir werden das Problem vermutlich nicht in dem Sinne lösen, dass wir einen zugleich vernünftigen und für alle akzeptablen Ausweg aus der Klimakrise finden. Es wird mit Sicherheit Gewinner und Verlierer geben. Ich bin jedoch überzeugt, dass auch kein anderes Regierungsmodell eine irgendwie bessere Lösung finden könnte.

Die bisherige Klimabilanz der deutschen Politik ist lausig. Seit 1990 hat eine Bundesregierung nach der anderen Reduktionsziele für den deutschen Treibhausgasausstoß formuliert – und verfehlt. Ohne die Corona-Lockdowns wäre auch das Ziel für 2020 völlig außer Reichweite gewesen.

Wohlwollend könnte man immerhin sagen: In Deutschland stehen Klimawandel und Klimaschutz heute ganz oben auf der Agenda. Für wirklich alle politisch relevanten Gruppen ist das Klima ein wichtiges Thema – und das gilt nicht nur für alle Parteien, mit Ausnahme der randständigen AfD, sondern auch für die Wirtschaft, die Kirchen und so weiter – sogar für den Sportbund. Nach meiner Wahrnehmung ist das auch nicht nur Rhetorik, sondern durchaus ernst gemeint. Aber natürlich sagt das nichts darüber, wie effektiv der Klimaschutz war und ist.

Lange Zeit haben wir uns in Deutschland vorgemacht, Weltmeister im Klimaschutz zu sein. Dabei bekamen wir einen Großteil unserer Klimaerfolge durch die Wiedervereinigung quasi geschenkt. Die Emissionen an Treibhausgasen gingen nach 1990 zurück – viele glaubten, das sei das Ergebnis engagierter Politik und posaunten
es überall herum. Dabei war es schlicht die Folge des Zusammenbruchs der DDR-Industrie.

Wenn wir die wissenschaftlichen Fakten betrachten, dann ist der Klimawandel die größte Bedrohung der menschlichen Zivilisation. Doch Politik und Gesellschaft reagieren darauf mit einer atemraubenden Gleichgültigkeit. Woran liegt das?

Da sehe ich mindestens vier Gründe; und die haben einerseits mit dem Klimawandel zu tun, andererseits mit uns Menschen. Ein erster Punkt ist, dass die meisten Veränderungen des Klimas langsam ablaufen – und unser Sinnes- und Denkapparat dafür schlicht nicht ausgelegt ist. Der Biologieprofessor Paul R. Ehrlich von der Stanford-Universität hat es mal so auf den Punkt gebracht:

»Wir sind eigentlich immer noch Savannenmenschen.«

Deren Überleben hing davon ab, dass sie schnell und wirksam auf plötzliche Gefahren reagieren konnten – etwa den Angriff eines Tigers. Doch bei Risiken, die schleichend daherkommen, sind wir von der Evolution her außerordentlich schlecht vorbereitet, sie wahrzunehmen und sie gefahrengerecht zu bewerten. Zweitens widerspricht die Dynamik des Klimawandels der menschlichen Intuition. Ein wichtiges Merkmal ist ja, dass Klima-Veränderungen nicht linear verlaufen. Wenn beim Temperaturanstieg auf der Erde bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, kommen Prozesse in Gang, die nicht oder fast nicht mehr umkehrbar sind …

… Sie meinen das, was Klimaforscher als »Kippelemente« im Klimasystem bezeichnen.

Genau! Und ein solches Kippverhalten geht gegen die normale Mentalität des Menschen. Wir leben nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum«.

Der Irrtum bringt uns weiter?

Das ist das Prinzip des menschlichen Erkenntnisgewinns. Unser gesamtes Wirtschaftssystem funktioniert so: Leute gründen ein Unternehmen; und wenn sie in Konkurs gehen, können sie noch mal von vorn anfangen. Dasselbe sehen wir im Bildungssystem mit Klassenarbeiten und Klausuren – wer eine vergeigt, nimmt Nachhilfe und versucht es noch mal.

Das Klima jedoch funktioniert nicht so: Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, wo es zuerst kleine, schleichende Veränderungen gibt, aber irgendwann einen Quantensprung, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden. Das ist unseren menschlichen Erfahrungen eher fremd, deshalb sehen wir auch kein grelles Signal, »Achtung: Hier müssen wir einschreiten!« So kommt es, dass praktisch alle Leute rein kognitiv um das Problem mit dem Klimawandel wissen und zum Beispiel in Umfragen auch angeben, dass sie das für ein wichtiges Thema halten.

Aber die besondere Dynamik des Klimawandels führt dazu, dass er die Menschen nicht wirklich alarmiert, dass er sie nicht veranlasst, sofort und grundlegend ihr Leben umzustellen. Deshalb ist das auch kein Thema, mit dem man in Deutschland Wahlen gewinnen kann. Die Leute sagen halt: Wenn es wirklich so schlimm kommt, kann man sich ja immer noch darum kümmern. Dass das nicht stimmt, ist sehr, sehr schwer vermittelbar.

Dem Klimawandel fehlt die Alarmglocke?

Das kann man so sagen. Und das bringt mich zum dritten Punkt, einem zutiefst menschlichen: Lieb gewonnene Verhaltensweisen ändert man ungern, eher leugnet man das Problem. Wer sich selbst ändern soll, um ein Risiko zu minimieren, der sucht alle möglichen Ausreden. Und er zeigt auf andere, die doch bitte anfangen sollen. Meinen eigenen Beitrag zu einem Problem finde ich immer marginal. Da kommen dann Sätze wie:

»Deutschland ist nur für gut zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich.«

Oder:

»Wenn ich mich ändere, bringt das nichts. Mein Nachbar kauft sich ein noch größeres Auto – und ich soll mich bei strömendem Regen auf dem Fahrrad abstrampeln?«

Sie sprachen von vier Punkten – was ist der vierte?

Dass es beim Klimawandel keine einfachen Rezepte gibt. Den Unterschied hat man sehr deutlich in der Corona-Krise gesehen: Da bekamen die Leute von der Wissenschaft vier, fünf klare Ratschläge – zum Beispiel Masken zu tragen oder persönliche Begegnungen mit anderen Leuten stark herunterzufahren. Eine wirklich große Zahl der Menschen hat das dann überwiegend diszipliniert umgesetzt.

Aber beim Klimawandel gibt es auch klare Rezepte!? Zum Beispiel: »Wir müssen weniger Treibhausgase ausstoßen.«

Als Maxime mag das simpel sein. Aber die Maßnahmen, wie man die Emissionen im Einzelnen herunterbekommt, die sind vielfältig, oft kleinteilig, und häufig stoßen sie im Detail auf Widerstände. Schon wenn wir uns nur den Energiebereich anschauen, wird es schnell unübersichtlich. Und es gibt viele weitere Bereiche, in denen etwas passieren muss. Jeder einzelne Bereich spaltet sich dann weiter auf, im Verkehr etwa in Gütertransport, Flugverkehr, den Bereich Privat-Pkw und so fort.

Schließlich gibt es Bereiche, die schwer vermittelbar sind, Landwirtschaft und Ernährung beispielsweise: Da wird gefordert, weniger Fleisch zu essen. Aber um zu erklären, wie solch ein Verzicht den Ausstoß von Treibhausgasen senkt, braucht man schon ziemlich viele Worte.

Wenn ich auf Veranstaltungen mit Leuten diskutiere, die gegen den Ausbau der Windkraft kämpfen, dann sagen die: Wir bauen ein Windrad nach dem anderen und verschandeln unsere Landschaft, aber die deutschen CO2-Emissionen gehen trotzdem nicht zurück!

Lesetipp

Die Kette zwischen Maßnahme und Wirkung ist zu lang?

Genau. Zum einen wirkt jede einzelne Klimaschutzmaßnahme winzig, wenn man sie an der Größe der Atmosphäre misst oder an der gesamten Menge der weltweit ausgestoßenen Treibhausgase. Zum anderen sind wir Menschen trainiert auf Wirkungen, die hier und jetzt und gleich passieren. Deshalb sprechen wir zum Beispiel auch von »weit hergeholt«, wenn wir etwas als wenig plausibel einstufen.

Es ist intuitiv echt schwierig zu vermitteln, dass meine Autofahrt einen Einfluss haben soll auf eine Überflutung in Bangladesch.

Wir haben in diesem Buch versucht klarzumachen, wie der Klimawandel auch Deutschland treffen wird.

Natürlich, einige Wirkungen kommen uns inzwischen sehr nahe. Hier, bei mir zu Hause in Potsdam, sind in den beiden Dürresommern 2018 und 2019 in den Parks und Schlossgärten reihenweise alte Bäume vertrocknet – das hat die Leute mehr bewegt als das Schicksal der Eisbären. Dennoch macht sich bisher kaum jemand eine Vorstellung, was Klimawandel wirklich für ihn bedeutet – dass die ganze Gesellschaft betroffen sein wird, die gesamte Wirtschaft. Im Zweifelsfall meinen die Leute immer noch, dass es die anderen trifft und nicht sie.

Es gibt in Deutschland kaum ein Gefühl dafür, wie verheerend Naturkatastrophen sein können, denn bislang gab es hierzulande kaum welche. Selbst als wir in den beiden Hitzejahren die vertrockneten Äcker sahen, die darniederliegende Landwirtschaft – da gab es dann ja staatliche Hilfen, so richtig schlecht ging es letztlich wohl niemandem. Und so, denken sich die Leute, werde es auf Dauer weitergehen.

Aber was passiert denn, wenn wir in ein paar Jahren plötzlich fünf oder sechs Dürresommer in Folge erleben?

Ich erwarte zwei gegenläufige Entwicklungen.

Die einen Leute werden sagen: Die bisherigen Maßnahmen waren zu schwach, man muss viel mehr machen – und viel schneller. Da wird es dann auch extreme Forderungen geben, ich karikiere jetzt mal: »Wir brauchen einen Klimawart in jedem Haus, der kontrolliert, ob alle wirklich klimaschonend leben!« So ein bisschen chinesischer Überwachungsstaat – nur eben mit ökologischen Vorzeichen.

Auf der anderen Seite werden Leute nach dem x-ten Dürresommer sagen: Der ganze Klimaschutz hat ja ersichtlich nichts gebracht. Man solle endlich aufhören mit dem teuren, sinnlosen Unfug. Dann werden natürlich noch viel stärker als heute Scharlatane kommen, Pseudo-Experten, die behaupten: Der Klimawandel habe ja gar nichts mit unserem Verhalten zu tun, Schuld sei die Sonne oder die Venus und man müsse jetzt zur Sonne beten, oder was weiß ich.

Also wird sich in einem Teil der Gesellschaft eine anti-wissenschaftliche Stimmung verstärken?

Das psychologische und politische Problem ist, dass Emissionsminderungen keine schnelle, direkte Wirkung zeigen. Das Klimasystem der Erde reagiert sehr träge. Selbst wenn heute mit sofortiger Wirkung jeglicher Treibhausgas-Ausstoß weltweit auf null gesetzt würde, ginge die Erderwärmung wegen der bereits ausgestoßenen Mengen ja erst mal weiter. Selbst in diesem hypothetischen Falle würde es mehr als zehn Jahre dauern, bis man überhaupt etwas an der Temperatur der Erde merkt.

Auch das ist ein Aspekt des Klimawandels, der kontraintuitiv ist: Das Klimasystem ist wie eine Badewanne, wir lassen seit mehr als hundert Jahren mit unseren Emissionen immer mehr Wasser ein. Selbst wenn wir jetzt plötzlich alle Hähne zudrehten, bliebe der Wasserstand ja erst mal auf dem hohen Niveau. Es dauert viele Jahre, bis die zusätzlichen Treibhausgase durch natürliche Prozesse wieder abgebaut werden.

Um im Bild zu bleiben: Der Badewannenabfluss ist nur winzig. Da geht es übrigens um Zeiträume, die viel länger sind als jede Wahlperiode.

Wenn Sie mit Politikerinnen und Politikern sprechen, dann sagen die ganz offen: Wieso soll ich jetzt etwas Unpopuläres beschließen, dessen positive Wirkung erst irgendwann nach Ende meiner Amtszeit eintritt? Selbst wenn wir schärfsten Klimaschutz umsetzen, wird der Klimawandel also nicht unverzüglich stoppen – und da wird dann ein Teil der Gesellschaft wahrscheinlich schnell ungeduldig werden. Das konnten wir zum Beginn der Corona-Krise gut beobachten: Als im Frühjahr 2020 die Schulen und Geschäfte schlossen und die Leute zu Hause bleiben sollten – da ging schon nach 14 Tagen eine Debatte los, was das wirklich bringe, dass jetzt mal genug sei, dass man die Maßnahmen endlich lockern müsse. Nach nur 14 Tagen!

Und gemessen am Corona-Virus hat der Klimawandel eine schier unendliche Inkubationszeit …

… da bekommt man natürlich eine ganz andere Welle von Widerstand und von Zweifeln und von Klagen. Ich rechne jedenfalls fest damit, dass der Klimawandel die politische Polarisierung zuspitzt. Auf der einen Seite wird es jene geben, denen all die getroffenen Maßnahmen nicht drastisch genug sind – auch das war ja bei Corona so. Da gab es Leute, die noch schärfere Ausgangssperren wollten oder Überwachungen, die wirklich demokratiegefährdend gewesen wären.

Auf der anderen Seite hatten wir jene, die alle wissenschaftlichen Analysen anzweifelten und meinten, mit dem Risiko müsse man sich halt abfinden, man solle das Leben genießen, solange wir können. Beide Flügel werden sich ausbreiten – und die große Frage ist dann: Was macht die Mitte der Gesellschaft?

Und? Was wird sie machen?

Das weiß ich natürlich auch nicht, es kann in die eine wie die andere Richtung gehen. In der Corona-Krise jedenfalls zeigte die Mitte der Gesellschaft eine steigende Zustimmung zur Regierung. Angela Merkel war plötzlich wieder hoch angesehen. In Krisen schart man sich immer um die Führung. Aber ob das auch in einer Dauerkrise wie dem Klimawandel so sein wird, kann ich nicht sagen!

Könnte im Angesicht des Problems der Ruf nach »dem starken Mann« lauter werden?

Solche Rufe könnten sogar aus beiden Flügeln kommen – man kann sich ja sowohl einen Klima-Diktator vorstellen als auch einen, der Schluss macht mit Klimaschutz.

Ersteres halte ich zwar für nicht sehr wahrscheinlich. In den links-grünen Kreisen, aus denen der Ruf nach einem Klima-Diktator kommen müsste, ist autoritäre Politik nun wirklich nicht beliebt. Allenfalls könnte ich mir vorstellen, dass es von dort die Forderung nach einem »starken Mann auf Zeit« gibt. Also einem, der jetzt mal für ein paar Jahre die Grundrechte außer Kraft setzt, weil wir uns dieses ausgedehnte Gelabere nicht länger leisten können, den ganzen Bund-Länder-Schnickschnack, die parlamentarischen Anhörungen und all diesen Kram.

Auf dem linken Flügel wird niemand offen sagen, die Demokratie habe versagt – eher wird es heißen, in so einer schwierigen Situation brauchen wir jetzt halt mal ein paar Jahre lang Notstandsgesetze.

Die andere Seite wird ganz anders argumentieren: Demokratie hat uns ins Verderben geführt. Wir haben jahrzehntelang auf die Wissenschaft gehört, und gebracht hat es nichts, das Klima geht trotzdem den Bach runter. Wir brauchen wieder klare Führung, jetzt mal Vorfahrt für die Wirtschaft, »Germany first, alles andere second«. Wir haben doch gesehen, dass die anderen Länder beim Klimaschutz sowieso nicht mitmachen, warum sollen ausgerechnet wir vorangehen? Und so weiter.

Aus Ihrer Analyse könnte man ableiten, die Demokratie könne mit dem Klimawandel gar nicht fertigwerden. Wenn man keine Diktatur will, was wäre mit einer Monarchie? Da sind die Amtszeiten in der Regel länger, Herrscher müssen ihre Politik nicht von Wahltermin zu Wahltermin rechtfertigen …

Das ist exakt, was die Chinesen sagen: »Unser Herrschaftsmodell kann schnell reagieren und einschneidend verändern.« Das haben wir auch nach dem Corona-Ausbruch in Wuhan gehört. Ich bin viel in China unterwegs, bei genauer Betrachtung sieht man natürlich die Kehrseiten: Hätte es in China eine Meinungs- und Pressefreiheit gegeben, wäre die Epidemie wahrscheinlich viel früher bekämpft worden – jedenfalls wären Warnungen viel früher bekannt geworden.

Ein weiterer Aspekt:

Wenn sich die Führung in Peking irrt, läuft das ganze Land in die falsche Richtung.

Nicht zuletzt sieht man fernab der Glitzerwelt von Metropolen wie Shanghai gigantische Fehlinvestitionen. Überall im Land stehen Tausende leere Wohnungen herum, gebaut in dem Wahn, irgendwo eine neue Millionenstadt zu erschaffen – aber dann wollte niemand dorthin ziehen.

Oder man sieht Windkraftanlagen auf dem Land, die haufenweise stillstehen. Die wurden auf Befehl dort hingeklotzt, aber es gibt keine Wartung. Wer sich zum Beispiel die Statistiken anschaut, wie hoch die Stromerzeugung pro installiertem Megawatt Windleistung wirklich ist, der wird China ganz hinten finden. Deutschland oder die USA liegen da meilenweit vorn.

Das heißt, Demokratie und Marktwirtschaft sind zwar langsamer als eine autoritäre Planwirtschaft – aber in der Umsetzung von Politik effizienter?

In der Tat baut China viel mehr, aber sie bauen auch oft völlig daneben. Das Land kann sich solche Ineffizienzen nur leisten, weil das Lohnniveau noch relativ niedrig ist.

Zurück nach Deutschland: Wir haben über die Folgen des Klimawandels für die Politik gesprochen – was aber macht er mit der Gesellschaft? Zum Beispiel mit ihrem Zusammenhalt?

Das kommt auf uns selbst an! Wir haben in Deutschland zwar größere soziale Ungleichheiten – aber auch ein starkes Bestreben, sie auszugleichen. Staatliche Umverteilung ist in unserer Gesellschaft ein akzeptiertes Mittel, auf Ungleichheit zu reagieren. Jedenfalls ist das Soziale in der Marktwirtschaft nach meinem Eindruck lebendig, auch wenn dies immer wieder mal ein bisschen schwankt.

Die entscheidende Frage ist: Wie stark werden die Verwerfungen infolge des Klimawandels in der Gesellschaft tatsächlich ausfallen? Gibt es dann zum Beispiel überhaupt noch etwas zum Umverteilen? Ehrlich gesagt sehe ich wenige wirkliche Gewinner …

… vielleicht die Baubranche?

Weil nach immer mehr Extremwetterereignissen immer irgendwo irgendetwas wieder aufgebaut werden muss? Mag sein. Ich sehe eher Branchen, die kaum berührt sein werden vom Klimawandel: die Digitalbranche zum Beispiel, die wird boomen, die wird richtig Geld verdienen. Auf der anderen Seite sehe ich Bereiche, die es wirklich hart treffen wird: die Landwirtschaft zum Beispiel wird sich stark umstellen müssen. Und es stellt sich natürlich die Frage, wer das finanziert.

Hält da die gesellschaftliche Solidarität? Oder setzt sich irgendwann der neoliberale Impuls durch: Jeder ist sich selbst der Nächste!

Was vermuten Sie?

Ich glaube, dass in Krisensituationen der Solidargedanke eher noch gestärkt wird – zumindest in einer Gesellschaft wie der deutschen.

Selbst wenn es nicht wirklich Gewinner des Klimawandels geben wird – es existieren ja doch Unterschiede, wie schwer man getroffen wird. Bei einer Hitzewelle geht es mir in einer Villa mit Garten besser als in einer winzigen Mietwohnung in der aufgeheizten Innenstadt …

Natürlich gibt es gesellschaftliche Gruppen, die verletzlicher sind als andere, zum Beispiel ältere Leute, Ärmere oder Menschen mit Vorerkrankungen. In der Hitzewelle 2003 lag das Sterberisiko von alten Menschen deutlich höher als bei anderen. Bei späteren Hitzewellen sah man aber auch, dass sich etwas gegen dieses Risiko unternehmen lässt – da wurden mancherorts alte Leute gezielt aufgesucht und betreut.

Wenn sich eine Gesellschaft solche Ungleichheiten bewusst zum Thema macht, kann sie diese kompensieren – zwar nicht vollständig, aber doch ein Stück weit. Geschieht dies jedoch nicht und wird gesagt, es solle doch jeder selbst schauen, wie er klarkommt – dann läuft alles auf ein unbarmherziges Land hinaus.

Beim Klimawandel geht es also nicht nur darum, wie heiß unsere Sommer werden, sondern auch, wie wir künftig zusammenleben?

Ich bin überzeugt, dass die Fragen zumindest sehr eng miteinander verwoben sind.

Was würden Sie empfehlen, wie sollten sich Politik und Gesellschaft auf den eskalierenden Klimawandel vorbereiten?

Am wichtigsten ist, dass die Politik ein gemeinsames Klimaanpassungsnarrativ entwickelt, und zwar jenseits aller Parteigrenzen. Darunter verstehe ich, dass sie die gefährlichen Entwicklungen und möglichen Konsequenzen der Erderwärmung beschreibt und zugleich formuliert, wie wir trotzdem unsere pluralistische und auf gegenseitigen Respekt ausgerichtete Gesellschaft erhalten können. Dieses Ziel sollte man als konstitutives Element nicht einer einzelnen Partei verstehen, sondern der gesamten politischen Kultur – es wäre dann auch nicht abwählbar, egal, wer die nächste Wahl gewinnt.

Zweitens sollte die Klimapolitik ehrlicher sein und mit der Inflation der Reduktionsziele aufhören. In der Vergangenheit war es ja so: Wurde eine versprochene Treibhausgas-Senkung verpasst, dann verschleierte die Politik das eigene Versagen dadurch, dass das künftige Klimaziel umso schärfer formuliert wurde – ohne allerdings Instrumente zu entwickeln oder gar zu beschließen, mit denen dieses Ziel tatsächlich erreicht werden könnte.

Reduktionsziele als Symbolpolitik?

Wir haben es in den vergangenen Jahrzehnten weltweit ja nicht einmal geschafft, den Anstieg der Emissionen zu stoppen – geschweige denn, sie zu verringern. Weil man aber trotzdem an dem Ziel festhält, bis 2050 klimaneutral zu werden, wird der Pfad dorthin immer steiler. Mittlerweile wäre für das Erreichen des Ziels eine jährliche Emissionsminderung nötig, die meiner Ansicht nach vollkommen unrealistisch ist.

Damit die Rechnung doch irgendwie aufgeht, sagen manche Klimapolitiker inzwischen: Dann machen wir halt in ein paar Jahrzehnten »negative Emissionen«, also holen Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre. Dabei weiß niemand, wie das im notwendigen Maßstab funktionieren soll. Aber Teile der Wissenschaft machen solche Manöver bisher bereitwillig mit. Offenbar wollen auch viele Forscher das Scheitern partout nicht eingestehen. Irgendwann jedoch wird das auffliegen, dann ist der Schaden umso größer. Demokratie verspielt so ihre Glaubwürdigkeit.

Was wäre der praktische Nutzen des von Ihnen gewünschten »Klima-Narrativs«?

Es könnte Lebensstile im Angebot haben, die sowohl klimaverträglich sind als auch attraktiv. Der müsli-kauende, verzichtspredigende Sandalenträger als Leitmotiv ist es nicht – jedenfalls nicht für die breite Masse.

Wir müssen überlegen, welche Zukunftsvisionen es für die Armen, die Mittelklasse, die Reichen gibt – ohne dass sie das Klima zugrunde richten. Hier liegt in der Corona-Krise vielleicht eine Mini-Chance: Sie hat gezeigt, dass ein gutes Leben mit weniger Konsum, weniger Tempo, nicht zuletzt weniger Flugverkehr durchaus möglich ist.

Vielleicht ist auch die Grunderzählung der Menschheit an ein Ende gekommen. Über Jahrhunderte sagten ja die Eltern zu ihren Kindern: »Du sollst es einmal besser haben.«

Mein Großvater zum Beispiel war bitterarmer Bauer, mein Vater war Lehrer, ich bin Professor. Vielleicht sind wir die Generation, die den Höhepunkt erreicht hat.

Was könnte denn nach Professor noch kommen?

Vielleicht muss gar nichts mehr kommen! Ich sehe das an meinen Kindern, die sagen:

»Papa, ich will gar nicht mehr werden als du. Und deine Work-Life-Balance möchte ich auch nicht.«

Es braucht also andere Ideen davon, was ein erfülltes Leben ist. Zugleich muss man sich davor hüten, Armut zu idyllisieren. Ich bringe bei Vorträgen immer ein Beispiel: Im Durchschnitt kauft jeder Mensch auf der Welt Woche für Woche ein neues Kleidungsstück. In der Folge landen in Europa mehr als 5,8 Millionen Tonnen Textilien pro Jahr im Müll, in den USA sind es 14 Millionen Tonnen. In Deutschland werden alle fünf Minuten mehr als 9000 Kleidungsstücke »entsorgt«, die Hälfte aller T-Shirts wird nach weniger als 37 Tagen weggeschmissen.

Wenn ich das erzähle, werden die meisten Zuhörer ziemlich still und überlegen, wie viele T-Shirts denn sie im letzten Jahr gekauft und wie viele davon sie noch im Kleiderschrank liegen haben. Das ist nur ein Punkt, wo jeder sagen kann, dass ein Mehr nicht zu mehr Lebensqualität führt.

Also doch wieder ein Verzichtsnarrativ!?

Das ist nicht der Punkt. Wir brauchen eine Erzählung, wie ein gutes Leben aussieht – und dass zum Beispiel Solidarität unbedingt dazugehört. Ein Großteil unseres Konsums ist vor allem demonstrativ, er soll zeigen, wie es uns geht. Davon kann man eine ganze Menge weglassen, ohne gleich zu darben. Hier gäbe es dann auch einen Ausweg aus dem Dilemma, dass Klimaschutz nicht sofort weniger Hitzewellen bedeutet. Es muss Anreize zu Emissionsminderungen jenseits des Klimaschutzes geben, sonst sagen die Leute irgendwann:

»Hey, ich verzichte auf so vieles, verkneife mir das Fliegen, hab eine Solaranlage für 10 000 Euro aufs Dach geschraubt, statt für das Geld eine Kreuzfahrt zu buchen. Aber das Klima wird immer noch nicht besser.«

Genau deshalb muss ich ein Narrativ haben, das mir zum Beispiel sagt: Mit dieser Solar-Anlage fühle ich mich wohler, sie macht Spaß, nebenbei entlastet sie die Umwelt, und Geld kann ich auch noch damit verdienen.

Man soll also aus anderen Gründen das Richtige tun?

Na ja, auch aus anderen. Dann ist es nicht mehr so tragisch, wenn die Klima-Dividende länger auf sich warten lässt.

Wenn Sie auf Deutschland im Jahr 2050 und die Folgen des Klimawandels schauen – was ängstigt Sie da am meisten?

Das Großthema Migration. Der Klimawandel wird ja nicht alle Länder der Welt gleichmäßig treffen. Schon heute verlässt ein wesentlicher Teil der Flüchtlinge weltweit seine Heimat aus Umwelt- und Klimagründen, ihre Zahl wird in den kommenden Jahrzehnten rasant steigen. Dürren und andere Extremwetter nehmen nämlich gerade in den Teilen der Welt zu, wo die Staaten schon jetzt oft instabil sind. Dann bleiben die Leute natürlich nicht dort und lassen sich stoisch alles gefallen.

Wenn ich kein wirtschaftliches Auskommen habe und es keine Aussichten der Besserung gibt, dann versuche ich übers Mittelmeer zu kommen – koste es, was es wolle. Und dann gibt es für uns Europäer zwei Möglichkeiten.

Entweder sitzen wir an der Grenze – krass gesagt – mit Maschinengewehren. Oder wir versuchen, irgendwie eine geordnete Einwanderung zu organisieren.

Das gibt aber wiederum innenpolitisch den Kräften Auftrieb, die Abschottung propagieren.

Die heutigen Debatten um Einwanderung und Islamismus, um Seenotrettung, »Schutz« der Außengrenzen und Verteilung von Flüchtlingen sind nur eine Ouvertüre?

Ich befürchte eine Zerreißprobe für Europa, wie wir sie uns bisher nicht vorstellen können. Schon in der Vergangenheit gab es Spannungen zwischen Süd- und Nordeuropa – aber daraus wird ein extremer Konflikt werden. Nicht nur wegen der Flüchtlinge, die vor allem im Süden ankommen – sondern auch, weil die Staaten in Südeuropa stärker unter dem Klimawandel leiden werden als der Norden der EU. Stehen dann auch bei uns Landwirtschaft, Industrie oder Gesundheitswesen unter Druck, weil es immer heißer wird – dann ist eine Re-Nationalisierung der vermeintliche Königsweg.

Dann werden die Stimmen lauter, dass wir uns vorrangig um uns selbst kümmern müssen. Wenn die Zahl der Flüchtlinge groß genug ist, dann ist es jedenfalls unmöglich, sie zu stoppen.

Diese Kombination aus weltweiter Migration und Etablierung eines rechtspopulistischen Autoritarismus in wohlhabenderen Staaten – das ist, was mich am Klimawandel am meisten beängstigt.

Der Klimawandel bedroht also letztlich die freie Gesellschaft?

Nicht der Klimawandel als solcher, sondern die Reaktion der Menschen darauf. Ich bin hoffnungsvoll, dass es auch Gegenbewegungen gibt – aber ich bin nicht sicher, ob sie stark genug sind.
 

© Nick Reimer, Toralf Staud: Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2021, 2023. ISBN 978-3-462-00493-9 Der Auszug aus dem Buch wurde uns freundlicherweise vom Verlag Kiepenheuer & Witsch zur Verfügung gestellt.

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