Wofür kämpfen Frauen am Frauentag und wie werden ihre Bedürfnisse auch im Rest des Jahres sichtbarer? Wie Ideen aus einem neuen Buch auch die Demokratie stärken können, lesen Sie hier.
Am 8. März, dem Internationalen Frauentag demonstrieren Frauen weltweit für Gleichberechtigung. Wollten die Frauen vor mehr als hundert Jahren noch das Wahlrecht durchsetzen, geht es heute darum, faire Löhne und Chancengleichheit zu fordern und Gewalt gegen Frauen anzuprangern. Lange hatte man den Eindruck, es gehe immer vorwärts: mehr Rechte, mehr Frauen in den Parlamenten und im Arbeitsmarkt. Doch es zeigt sich, dieses Vorwärts ist nicht garantiert. So ist der Frauenanteil im aktuellen Bundestag auf den Stand der 90er Jahre gefallen und die Corona-Pandemie führt Familien vielerorts zurück zu alten Rollenmustern.
Gerade habe ich das Buch „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez gelesen. Obwohl Frauen in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und somit keine Minderheit, sondern die Mehrheit sind, scheinen wir sehr wenig über sie zu wissen: darüber, welche Wege sie täglich zurücklegen, wie Medikamente bei ihnen wirken, ob Arbeitsschutzvorschriften für sie ausreichend sind oder ob sie in öffentlichen Räumen Angst haben.
Das liegt, so Criado-Perez, daran, dass die Begriffe „Mensch“ und „Mann“ gleichgesetzt werden. Männer sähen sich selbst als den Standard und ihre Sicht als objektiv an. Die meisten wissenschaftlichen Studien werden an weißen Männern zwischen 25 und 40 durchgeführt. Diese Daten werden dann auf andere Gruppen übertragen. Auch wenn eine Untersuchung mit weiblichen oder nicht-weißen Probanden möglicherweise andere Ergebnisse gebracht hätte. So entsteht eine Wissenslücke, weil der Mann als Standard-Mensch angenommen wird. Und weil Themen, die vorrangig Frauen betreffen, gar nicht erst untersucht werden.
"So wissen wir beispielsweise alles über die Staublunge von Bergmännern, ein Krankheitsbild, das nur eine Berufsgruppe betrifft. Zur Schmerzwahrnehmung der größeren Hälfte der Bevölkerung gibt es jedoch keine Studie, weil bisher alle Schmerzstudien mit männlichen Teilnehmern durchgeführt wurden" (Criado-Perez, S. 163).
Criado-Perez wirft den Männern keine Absicht vor. Diese Wissenslücke löst jedoch einen Kreislauf aus, der sich selbst verstärkt: Liegen keine Daten vor, die zeigen, dass Frauen durch eine bestimmte Entscheidung benachteiligt werden oder welche Entscheidung ihren Bedürfnissen besser gerecht würde, gehen die meist männlichen Entscheider von ihren eigenen Bedürfnissen aus. Die Frauen bleiben unsichtbar. Weil weibliche Komponistinnen oder Forscherinnen jahrhundertelang nicht gleichwertig erinnert, geehrt und in Schulbücher aufgenommen wurden, verbinden schon 6-Jährige diese Tätigkeiten eher mit Männern. Interessant ist, dass Caroline Criado-Perez das Mitdenken der Bedürfnisse von Frauen nicht als soziales Projekt betrachtet, sondern zeigt, dass dadurch volkswirtschaftlich Geld gespart werden kann. Es ist also nicht nur ethisch, sondern auch wirtschaftlich geboten. Die Frage ist, wie man diesen Kreislauf durchbricht.
Dafür hat die Autorin Criado-Perez verschiedene Vorschläge: Wenn ein Gremium mit Menschen verschiedener Hintergründe und Eigenschaften besetzt ist, also Frauen an diesen Entscheidungen beteiligt werden, kann das schon helfen. Andererseits, so argumentiert sie, darf es nicht den einzelnen Frauen in Geschäftsleitungen, Parteien oder Gewerkschaften überlassen werden, die Bedürfnisse der ganzen Gruppe durchzusetzen.
Frauen mitzudenken ist für mich eine Aufgabe, der sich Gesetzgeber, Forschungsinstitutionen, Arbeitgeber und zivilgesellschaftliche Organisationen annehmen sollten: Sie sichtbar machen, sie bei allen Forschungsfragen mitdenken, in den Berichten nach Geschlechtern unterscheiden und so verlässliche Daten über die Situation von Frauen und ihre Bedürfnisse bereitstellen. Denn nur mit einer solchen Datenbasis können die Entscheider/-innen im Bundestag, in den Ministerien und Verwaltungen eine zukunftsweisende Politik für alle Bürgerinnen und Bürger machen.
Vielleicht nehmen auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser diesen Denkanstoß mit: Welche Entscheidungen treffen Sie, als Arbeitgeber oder Vorgesetzte, als Vereinsvorsitzende oder als Wähler, in der die weibliche Mehrheit noch nicht ausreichend mitgedacht wird? Und wo sehen Sie, liebe Leserinnen, ihre Bedürfnisse nicht mitgedacht? Was können die Frauen außerhalb des Frauentags tun, um nicht unsichtbar zu bleiben? Die Demokratie lebt davon, dass wir alle uns einbringen, aber auch davon, dass die Bedürfnisse aller Gruppen bestmöglich erfüllt werden. Werden einzelne Gruppen dauerhaft benachteiligt, ist das auch eine Gefahr für das demokratische System.
Natürlich ist das Geschlecht nicht die einzige Kategorie, die zu einer Bevorzugung oder Benachteiligung führt. Immer wieder macht die Autorin klar, dass die ökonomische Situation, Hautfarbe oder das Alter auch zu Diskriminierungen führen oder Benachteiligungen einander bedingen. Zum Beispiel sind Frauen weltweit statistisch eher arm. Eine ganze Gruppe schließt Criado-Perez aber aus, die Menschen, die nicht in die Kategorien von Frau oder Mann passen: Inter-, Trans*- und nonbinäre Menschen.
Wenn der Versuch gerechtere Entscheidungen zu treffen, neue blinde Flecken erzeugt, müssen wir, finde ich, genauer hinsehen. Um Ungerechtigkeiten zu verringern, sind wir auf die Hilfe von allen angewiesen, Männern, Frauen und Menschen mit anderer Identifikation und sollten, so mein Plädoyer, nicht nur mit der eigenen Gruppe solidarisch sein.
Karen Bähr, von 2019 bis 2021 Mitarbeiterin der Landeszentrale und zuständig für Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit. Sie kommt aus dem Brandenburger Speckgürtel, hat schon israelische Seniorinnen betreut, Bildungsarbeit in einer niedersächsischen Gedenkstätte gemacht, Erfurter Studierende unterrichtet und österreichische Archive durchforstet.
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