Journalistin Kristina v. Klot trifft in Brandenburg Menschen, die das demokratische Miteinander fördern wollen. In Cottbus erfährt sie von Christian Müller, warum er mit seinem Engagement für ein toleranteres Miteinander in der Schule beginnt.
Christian Müller nimmt die Gefühle von Schülerinnen und Schülern ernst – und damit Wut und Aggressionen den Wind aus den Segeln:
„Ich versuche, Momente zu schaffen, in denen sich Jugendliche gesehen fühlen und als Subjekt erleben – statt wie so häufig als Objekt.“
Die vierte Station der Reise durch Brandenburg führt nach Cottbus in die Niederlausitz. Im Kulturzentrum „Bunte Welt“ sind das Regenbogenkombinat und der Verein CSD Cottbus die zentrale Anlaufstelle für queere Menschen in der Region. Von hier aus koordiniert Christian Müller, Standortleiter und Schlüsselfigur der örtlichen LGBTQIA+-Gemeinschaft, die zwei Aktionswochen des 17. Christopher-Street-Day Cottbus & Niederlausitz.
Kaum bekannt ist, dass neben dem bunten Straßenumzug viele weitere Formate auf dem Programm stehen. Darunter auch Workshops für Toleranz und Vielfalt, die Christian Müller für Schulklassen ab der neunten Stufe konzipiert hat und ehrenamtlich leitet. Hauptberuflich arbeitet der 47-Jährige für ein lokales Bündnis des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Ist er an Schulen unterwegs, hat er den Anspruch, dort einen neuen Ton zu setzen: „Ich versuche, Momente zu schaffen, in denen sich Jugendliche gesehen fühlen und als Subjekt erleben – statt wie so häufig als Objekt.“
„Heranwachsende brauchen ein Gegenüber das sie ernst nimmt, zuhört und nachfragt. Viele trauen sich nur dann, offen zu sagen, was sie stört, und selbst etwas zu verändern.“
Eine Erfahrung von Christian Müller aus über siebzehn Jahren sozialpädagogischer Arbeit: „Viele junge Menschen, denen ich in meinen Workshops begegne, empfinden die Schule als Ort, an dem sie stark reguliert und in ihrer Freiheit eingeschränkt werden – ein Gefühl, das sich häufig in Aggressionen entlädt.“
Umso mehr ermutige er sie dazu, Probleme offen zu thematisieren und aktiv anzugehen, statt passiv zu ertragen. Dabei spiele er mit ihnen unterschiedliche Lösungsansätze durch, um zu zeigen, wie Selbstermächtigung funktioniert. „Heranwachsende brauchen ein Gegenüber, das sie ernst nimmt, zuhört und nachfragt. Viele trauen sich nur dann, offen zu sagen, worunter sie leiden, und Veränderungen anzustoßen.“
Ein Stuhlkreis, der vieles verändert
„Indem ich die Klasse auffordere, mich zu bewerten, verändert sich plötzlich das Machtgefälle im Raum.“
Und wie läuft der Workshop konkret ab? Zu den wichtigsten Voraussetzungen für gewaltfreie Kommunikation im Klassenraum zählt er den Stuhlkreis, und dass er defensiv agiere , sagt Müller; selbst dann, wenn Chaos herrsche und „die Alphatierchen der Klasse“ versuchten, ihn und den Workshop lächerlich zu machen. „Da höre ich Kommentare wie: ‚Warum müssen wir über Vielfalt reden? Es gibt sowieso nur zwei Geschlechter, alles andere ist krank!’“
Da er jedoch das Prinzip der radikalen Akzeptanz favorisiere und Situationen und Menschen so annehme, wie sie sind, ohne darüber zu urteilen, reagiere er gar nicht auf solche Sprüche. Im Gegenteil: Sobald es ruhiger wird im Raum, lädt Müller dazu ein, ihm per grüner und roter Karte zu signalisieren, wie respektvoll er sich ihnen gegenüber verhält. „Indem ich die Klasse auffordere, mich zu bewerten, verändert sich plötzlich das Machtgefälle im Raum: Und auf einmal können die Schülerinnen und Schülern selbst entscheiden, wie sie behandelt und angesprochen werden wollen.“
Strategien, damit Ohnmachtsgefühle nicht in Wut und Hass umschlagen
"Es dauert nicht lang, bis Schülerinnen und Schüler vom großen Druck sprechen, sich anpassen zu müssen, und davon, sich häufig wehrlos zu fühlen."
Wichtig sei dabei, sich selbst rauszuhalten und den Jugendlichen Raum zu geben, damit sie unter sich verhandeln können, was ein gutes Miteinander im Klassenraum ausmacht. Das wirke auf viele befreiend und schaffe Vertrauen. „Und es dauert nicht lang, bis Schülerinnen und Schüler von einem großen Druck sprechen, sich anpassen zu müssen; und davon, sich wehrlos zu fühlen, sobald Lehrkräfte, aber auch Eltern und Gleichaltrige ihre Macht gegen sie ausspielen“, resümiert Müller.
Häufig sei bei den Teilnehmenden seiner Workshops die Rede von einem „Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht“; und dass sich diese Emotion schon mal in Wut und Hass gegenüber Menschen entlade, die „anders“ sind. „Zum Beispiel wegen ihrer Sexualität oder weil sie aus anderen Kulturen kommen.“
„Und auf einmal steht die Frage im Raum: Was bedeutet Würde überhaupt? Und was ist so schwierig daran, respektvoll miteinander umzugehen?“
Und was sind die Ziele des Workshops? Zum einen entwerfe man gemeinsam alternative Strategien im Umgang mit Frust, um Gewaltausbrüchen vorzubeugen, sagt Müller. Zum anderen wolle er vermitteln, wie wichtig es für das demokratische Miteinander ist, verloren geglaubte Freiräume – auch im Schulkontext – zurückzuerobern.
Als Dreh- und Angelpunkt nennt der Sozialpädagoge die Diskussion über die Unantastbarkeit der Menschenwürde. „Denn dann steht auf einmal die Frage im Raum: Was bedeutet Würde überhaupt? Und was ist so schwierig an einem respektvollen Miteinander? Egal, ob in der Schule, Zuhause, oder unter Gleichaltrigen.“
Und wie reagieren die Jugendlichen auf ihn? Meist zeigten seine Workshops unmittelbare Wirkung, sagt Müller: Die einen fragten ihn hinterher verstohlen nach Materialien zur Queerness, und die anderen, warum er nicht Lehrer geworden sei. Das freue ihn zwar, aber noch überwiege die Skepsis, „als Freigeist im Schulsystem überleben zu können“.
Immer wieder überraschten ihn auch starke Reaktionen Einzelner. Zum Beispiel, wenn die größten Provokateure vom Beginn des Tages ihn Stunden später zum Auto begleiten und seine Koffer schieben wollten. „Mein erster Impuls ist: Die haben etwas begriffen und wollen Wiedergutmachung.“ Aber wenn sie ihm beim Gang um den Block ausführlich erzählten, was bei ihnen zu Hause alles schiefläuft, rührte ihn das: „Dann denke ich nur: Ihr seid Mäuse… Was Ihr braucht, sind Menschen, die Euch zuhören, soziale Arbeit, das volle Programm!“
„Warum sind männliche Jugendliche queeren Menschen gegenüber häufiger ablehnend eingestellt als weibliche – und was haben traditionelle Geschlechterrollen damit zu tun?“
Und was treibt ihn selbst an, sich rund 50 Tage im Jahr für mehr Respekt und Toleranz im Klassenraum einzusetzen? Müller erzählt von seinem Aufwachsen in einer Kleinstadt nahe Cottbus und von Mobbing-Erfahrungen als Jugendlicher, der seine Homosexualität nicht ausleben konnte. „Es gab keine Solidarität, auch nicht in der Schule“, sagt er. Erst nach dem Abitur und durch „völlig unerwartete Outings“ in seiner Familie, die vieles veränderten, konnte er offen schwul leben. Seine Lebenserfahrungen mit den Jugendlichen zu teilen, erweitere deren Horizont und sei ein wichtiger Teil des Workshops. „Entscheidend ist aber auch, dass ich nicht in erster Linie als queerer Mensch auftrete, der den Jugendlichen das Regenbogen-Thema aufzwingen will.“
Auf eine Frage, die er bereits 2017 in seiner Bachelorarbeit stellte, habe er bis heute keine einfache Antwort gefunden: „Warum verhalten sich männliche Jugendliche queeren Menschen gegenüber häufiger ablehnend als weibliche, und was haben Geschlechterrollen damit zu tun?“
Checkliste für mehr Toleranz und Vielfalt im Alltag
So kann man sich im persönlichen Umfeld für ein friedliches Miteinander einsetzen – inspiriert von Christian Müllers Engagement in Schulklassen:
- Gesprächsräume eröffnen: Im Team oder Verein regelmäßig nachfragen, wie es den Menschen wirklich geht.
- Wissen rund um Vielfalt teilen: Workshops entwickeln, die über verschiedene Lebensrealitäten, Rollenbilder, diskriminierende Sprache und unbewusste Vorurteile aufklären, zum Beispiel im Kontext der LGBTQIA+-Community.
- Gelassen reagieren: Abwertenden Sprüchen und provokanten Kommentaren souverän und ruhig begegnen: Haltung zeigen, ohne zu eskalieren.
- Dialoge anstoßen: Austauschformate oder kurze Impulse zum Thema gewaltfreie Kommunikation organisieren.
- Solidarität leben: Kolleginnen und Kollegen, die unter Diskriminierungen leiden, unterstützen und sie in ihrer Zugehörigkeit bestärken.
- Würde bewahren: Auch in Streitgesprächen den Wert und die unantastbare Würde des Gegenübers im Blick behalten – und respektvoll bleiben.
- Netzwerke nutzen: Mit lokalen Initiativen und Anlaufstellen für Vielfalt zusammenarbeiten und gemeinsam aktiv werden.
Ehrenamtliche zeigen, dass es sich lohnt, selbst aktiv zu werden. Man überlistet eigene Vorurteile, lässt Ignoranz und Unzufriedenheit hinter sich und erlebt, wie man gemeinsam mit anderen viel bewirken kann. In der Blog-Reihe „Es bewegt sich was in Brandenburg“ stellt die Journalistin Kristina v. Klot einige dieser engagierten Menschen vor.
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