Glossar Brandenburgisch-Deutsch

Der Brandenburger trägt sein Herz nicht auf der Zunge. Sich kurz zu fassen, ist eines der wesentlichen Prinzipien eines brandenburgischen Gesprächs, das meint zumindest die Brandenburger Autorin, Antje Rávic Strubel. Gut, wenn man die paar Brocken Brandenburgisch dann auch kennt.

Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Muss-Preuße

Bewohner Jüterbogs, Bad Belzigs und der Niederlausitz, auf die alles, was in diesem Buch über den kargen, nüchternen, disziplinierten und sparsamen Lebensstil gesagt wird, nicht zutrifft. Die Muss-Preußen wurden erst nach dem Ende des Ancien Regimes nach Brandenburg zwangsintegriert. Ihre Sparsamkeit besteht darin, sich hundert strenge Jahre gespart zu haben.

Wahlbrandenburger

Auch auf diese Spezies treffen die meisten meiner Behauptungen nicht zu. Sie sind entweder

  1. naturliebende Berliner, die die Anbindung an die Großstadt nicht aufgeben wollen, weshalb sie regelmäßig Staus an der Berlin-brandenburgischen Grenze verursachen.
    Oder
  2. Schwaben und Rheinländer, die es auf grund des Regierungsumzugs oder anderer widriger Umstände nach Potsdam verschlagen hat und die jetzt im atheistisch geprägten Landstrich auf der Suche nach einem katholischen Heimatgefühl umherirren.

Pendel-Migrant

Dieser Menschentypus versucht zwar, sich so gut wie möglich ins Vorhandene einzufügen, das gelingt ihm aber schon wegen der kurzen Aufenthaltsdauer im Brandenburgischen nicht so recht. Es handelt sich um Ärztinnen, Grafiker, Doktoren der Slawistik oder Philosophinnen, meist aus Polen, immer häufiger auch aus der Ukraine oder Moldawien, die in ihrer Heimat Jahresurlaub nehmen, um in Beelitz Spargel zu stechen oder in Lübben Gewürzgurken zu ernten. Früher nannte man sie auf den Dörfern Wanderarbeiter.

Brandenburg-Flüchtling

Eingeborene Brandenburger, auf die die einschlägigen Behauptungen zum Lebensstil zutreffen könnten, würden sie in Brandenburg leben. In Ermangelung eines heimischen Arbeitsplatzes haben sie in der Schweiz, Bayern oder in Österreich die Rolle der PendelMigranten übernommen. Dort bringen sie wiederum die typischen Eigenschaften der Einheimischen durcheinander.

Canis Lupus

Umgangssprachlich: Wolf. Bestgeschützter Einwanderer Brandenburgs. Leider missbraucht, um eines der landläufigsten Vorurteile gegenüber der Mark Brandenhurg zu stützen: sie sei eine Wildnis. Dabei sind es sächsische Wölfe. Die Tiere fanden sich zunächst auf einem sächsischen Truppenübungsplatz ein und überquerten dann als Familie die Grenze nach Brandenburg. Das brandenburgische Umweltministerium stellte daraufhin sofort einen Wolfsmanagementplan auf; auch um zu beweisen, dass man sich hier auf das Managen von Wildnis versteht.

Großtrappe

Absolute Ausnahmeerscheinung. Der Star. Innerhalb Deutschlands gibt es diesen Vogel ausschließlich in Brandenburg, weil er ein bischen so ist wie die Brandenburger: schwer, kann aber fliegen.

Weißstorch

Gefährdete Storchart, die sich gern auf Feuchtwiesen tummelt. Die meisten Horste gibt es in Rühstädt in der Prignitz und in Linum. Die Vögel staksen auch gern hinter Mähdreschern übers Feld und ziehen Menschen in der zweiten Lebenshälfte an, die ihre Vorruhestandsrente in Spektive und andere Vergrößerungsausrüstung investieren.

Ritter Kahlbutz

Berühmte, gut erhaltene Leiche. Es handelt sich um einen Edelmann aus dem 17. Jahrhundert, der einen Schäfer erschlagen haben soll, nachdem dieser ihm die Vergewaltigung seiner Frau nicht gestattet hatte. Er verweigerte dem Ritter das sogenannte "Recht der ersten Nacht". Vor Gericht soll Kahlbutz gesagt haben: "Wenn ich doch der Mörder bin gewesen, dann wolle Gott, soll mein Leichnam nie verwesen." Die eigentliche Strafe: Nackt liegt er jetzt in einer Gruft in Kampehl und muss sich tagein, tagaus eine grantige Wärterin anhören, die in leiernder Endlosschleife den Schlange stehenden Touristen sein Leben erzählt.

"Sich kurz zu fassen, ist eines der wesentlichen Prinzipien eines brandenburgischen Gesprächs. Die Themenvielfalt ist so groß wie überall; worauf es ankommt, ist, sie mit dem kleinstmöglichen Wortaufwand zu bewältigen. Schließlich hat der Mensch ja noch andere Sachen zu tun." Antje Rávic Strubel

Luch

Wichtigste landschaftliche Erscheinung Brandenburgs. Bezeichnet eine ausgedehnte, vermoorte Niederung. Bekannt sind das Rhinluch, das Havelländische, das Wustrauer, das Rote, das Lange und das Kremmener Luch, aber auch der Spreewald. Die Versumpfung im Luch bildet sich auf grund eines hohen Grundwasserspiegels, überschüssiges Wasser bleibt in Tümpeln stehen, anders als im

Bruch

Kein Fall fur den Orthopäden, sondern eine Moor- und Sumpflandschaft, die von Fließgewässern gespeist und mit langem U gesprochen wird. Typisch für die Bruchlandschaft sind Flussbegradigungen, Deiche und Hochwasserkatastrophen. Beispiel: Oderbruch.

Die Schweiz

Irreführende Landschaftsbezeichnung, In der Buckschen, der Märkischen, der Calaller oder der Ruppiner Schweiz gibt es weder Alpen noch Alphörner, sondern Sanddünen, Seen und Kiefern, und der berühmteste Schweizer Immigrant  Brandenburgs, der Fernsehmoderator Dieter Moor, hat damit auch nichts zu tun. Der wohnt in der Uckermark.

Die verbotene Stadt

China hatte immer nur eine. In Brandenburg gab es zwei: Die Residenzen russischer Generäle und KGB-Offiziere. Die verbotenen Städte waren von Mauern umgeben, und wer sich zu nah heranwagte, riskierte sein Leben. Aus der  verbotenen KGB-Stadt hinter dem Park Cecilienhof in Potsdam ist heute ein teures Villenviertel geworden. In der verbotenen Stadt in Wünsdorf gibt es touristische Führungen.

Schrottgorod

Liebevoller Spitzname der Brandenburger für ihre sozialistische Planstadt an der Oder, die auch unter dem Namen Eisenhüttenstadt bekannt ist. Anstelle von Kirchtürmen stehen hier die Türme der Hochöfen. Die Wortkombination deutet auf die Sprachgewandtheit der Brandenburger hin, die vor allem im Russischen zu finden ist; gorod bedeutet Stadt...

Wilhelm

Männlicher Vorname aller wichtigen Herrscher im Brandenburgischen seit dem ersten Kurftirsten der Hohenzollern 1415. Gern ergänzt um den Namen Friedrich. Wer sich als Kenner der brandenburgisch-preußischen Machtabfolge erweisen möchte, braucht sich nur diese beiden Namen zu merken. Verwechslungen sind kein Problem, wahrscheinlich kamen die Herren selbst gelegentlich durcheinander.

P. S. Die Damen gestatteten sich eine größere Vielfalt. Wobei der Name Louise oder auch Luise besonders beliebt gewesen ist. Abgesehen von der Lieblingsschwester Friedrich des Großen, die Wilhelmine hieß, war die einzige andere berühmte Wilhelmine Brandenburgs eine Mätresse und zwar von... Friedrich Wilhelm! Klar.

S.K.D.

Wichtige royale Abkürzung. Sollten Sie bei einem Potsdambesuch auf einen Kurfürsten treffen und möchten das gern allen Ihren Freunden simsen, müssen Sie nicht die Langform "Seine Kurfürstliche Durchlaucht" verwenden. Bsp. Skd:lol!

Hamwanich

Aus dem Gesamtostdeutschen übernonmene, wichtigste und tief empfundende Form, sein Bedauern auszudrücken. Wenn Sie damit umgehen können, haben Sie die Taufe zum Brandenburger bestanden. Meine Empfehlung: Machen Sie es so elegant wie mein Vater. In einer von Brandenburgs zahlreichen Dorfgaststätten erhielt er auf seine Frage nach grünem Tee die Auskunft: "Hamwanich". Worauf er sagte: "Na, wenn Sie das nicht haben, dann nehme ich das auch nicht."

Ichkommarum

Hier handelt es sich nicht um den Versuch eines Alkoholikers, eine grammatikalische Lösung für die Trennung seines Ichs vom Alkohol zu finden. Es ist die schlichte Ankündigung, auf ein Bier oder ein Schwätzchen vorbeizukommen.

Ich jeh bei Brijitten

Im Grunde ähnlich wie oben, nur spezifischer. Hier erfährt der Adressat der Äußerung, bei wem der Sprecher mal eben kurz rumkommt. Hochdeutsch: Ich gehe zur Brigitte.

Jenaupe!

Bedeutet "genau", wenn man es mit Nachdruck sagen möchte.

Samma

Ausruf der Entrüstung. Kann auch als Anlauf zu einer Nachfrage benutzt werden. Hochdeutsch: Sag doch einmal.

Du alter Dämlack!

Leicht veraltete Version der vulgärsprachlichen Formulierung, Du Idiot! Weitere Variationen sind: Du Flitzpiepe! Du Dumpfbacke! Du Döshattel! Wobei Letztere stark sachsen-anhaltinische Anklänge aufweist.

Lesesteine

Keine Kulturerscheinung. Man setzt sich auf diese Steine nicht etwa, um ein Buch zu lesen, sondern man liest sie auf. Das arme Land besaß nichts als Feldsteine, davon aber so viele, dass die Bauern sie aufsanmlelten und als Baumaterialien verkauften. Noch meine Eltern sammelten sie, um sich zu Zeiten der Mangelwirtschaft einen Kamin bauen zu können.

Kalbende Felder

Der reichen Einbildungskraft der Landbevölkerung zu verdankende Formulierung, die ausdrücken will, dass aus den Tiefen der Felder wieder neue Lesesteine an die Oberfläche gelangt waren.

Häcksler, Häxler, Hexler oder Hecksler

Wie immer Sie das Ding schreiben, schaffen Sie sich einen an! In Brandenburg ist der Häxler das, was für die Schweden der Rasenmäher und für die Amerikaner der SUV ist; ohne den Häxler gehören Sie nicht dazu. Er zerkleinert Ihnen alles: Ihr jährliches Herbstlaub, störende Äste, einen Balken aus der Scheunendecke. Unter Umständen kann er auch unerwünschte Biografien klein machen.

Kratzputz

Von Westdeutschen gern als Spritzbeton vervornehmt. Dabei wird hier nicht gespritzt, sondern gekratzt; aus dem mit Splittern vermischten Beton kratzt man die Splitter nach dem Verputzen wieder raus. Kommt meistens in den Farben grau oder gelbbraun vor. Dieser architektonische Höhepunkt aus DDR-Zeiten wurde an vielen Einfamilienhäusern gern mit gelben, halb transparenten Vordächern aus gewellter Plaste kombiniert, die auf der Außentreppe Ankömmlinge vor dem Regen schützen.

Abbaggern

Keine Angst, niemand lässt Sie sitzen. Hier ist nicht das Gegenteil von anbaggern gemeint. Hier geht es um: ausmerzen, einstampfen, plattmachen. Hundert Meter hohe Schaufelradbagger reißen Dörfer mitsamt der Kirche ab, um an die darunterliegende Braunkohle zu gelangen. In der Lausitz wurden in den letzten Jahrzehnten Hunderte Dörfer abgebaggert.

Gurkenflieger

Nicht zu verwechseln mit dem Rosinenbomber. Bei diesem "Flieger" handelt es sich um einen Traktor, der mit bis zu ftinfzehn Meter langen Flügeln ausgerüstet ist. Die Flügel schweben dreißig Zentimeter über der Lausitzer Erde, auf der Gewürzgurken wachsen. Diese werden von bäuchlings auf den Tragflächen liegenden Menschen, zumeist aus Osteuropa, geerntet, während das Fahrzeug langsam übers Feld streift und die Saisonarbeiter geschwollene Hände und steife Kreuze bekommen.

Die Autorin Antje Rávic Strubel, 1974 in Potsdam geboren, aufgewachsen in Ludwigsfelde, wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Sie lebt in Potsdam. 


Mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlages Abdruck aus: Antje Rávic Strubel, Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg, Piper Verlag, München 2012

Bewertung
16 Stimmen, Bewertungen im Durchschnitt: 3.3 von 5

Kommentare

Kommentieren

Vielen herzlichen Dank für diesen köstlichen Lesegenuss von Antje Rávic Strubel !

Obeliks vom Donnersberg
DER SCHRECKEN ALLER SPINNER

Ickkommarum nach Brandenburg...Frau Strubel macht Lust darauf!

Neuen Kommentar hinzufügen

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.