Theodor Fontane ist so was wie der brandenburgische Nationaldichter. Die Brandenburger verehren ihn. Es gibt unzählige Fontane-Denkmäler. Allerlei Nachahmer waren und sind unterwegs, den Wegen des Dichters zu folgen und aufzuzeichnen, was sich seit dessen Zeiten verändert hat oder nicht.
Die poetische Form der Ballade war lange Zeit hindurch bei den Deutschen höchst populär. Entsprechende Sammlungen standen in vielen gutbürgerlichen Bücherschränken, Generationen von Gymnasiasten mussten Beispiele daraus auswendig lernen: Schillers »Bürgschaft« etwa, seine »Kraniche des Ibykus«, Goethes »Fischer«. Das ist alles vorbei. Balladen werden heute nicht mehr gelernt und kaum mehr gelesen.
Mit einer Ausnahme. Sie heißt »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« und wurde 1889 erstmals gedruckt. Der Autor ist Theodor Fontane. Erzählt wird von einem märkischen Adelsmann, der die Dorfkinder mit seinen Birnen verwöhnt und, als er stirbt, Obstkerne mit ins Grab nimmt, aus denen für künftige Dorfkinder ein Birnbaum wächst. Die Geschichte ist leidlich verbürgt.
Der historische Ribbeck hieß mit Vornamen Hans-Georg und starb 1759. Der Balladen-Ribbeck wird unter anderem mit dem Satz zitiert: »Lütt Dirn, kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.« Das ist märkisches Platt, wie es zu Fontanes Zeit noch gesprochen wurde, zumal auf dem Land. Heute ist es ausgestorben.
Das Brandenburger Platt ist vom Aussterben bedroht, aber noch vorhanden. Es ist die einzige Regionalsprache Brandenburgs. Der Fachbegriff für die Regionalsprache ist Niederdeutsch. In Brandenburg ist Niederdeutsch vor allem nördlich von Potsdam und im Fläming noch vertreten. Der Schutz und die Förderung des Plattdeutschen ist in der Brandenburger Verfassung festgelegt.
Das dreihundert-Seelendorf Ribbeck, heute eingemeindet in Nauen, profitiert von der Ballade ungemein. Täglich schüttet es hier Omnibusladungen von Touristen aus, die Grab, Kirche, Schloss und Birnbaum besehen wollen. Es gibt eine alte Brennerei, die freilich nicht mehr arbeitet.
Der am Ort reichlich verkaufte Birnenschnaps wird anderswo gebrannt. Der Name Fontane ist ein touristischer Magnet. Es verhält sich damit ähnlich wie mit Goethe und Thüringen oder Kafka und Prag.
Im Fall Fontane kann man die Sache angemessen finden, da der Dichter seinerseits ein fleißiger Tourist war und sich ausführlich darüber geäußert hat. Er schrieb über seine Reisen durch Schottland, »Jenseit des Tweed«, er war ein emsiger Zeitungskorrespondent in England und hat seinen Berliner Lesern zum Beispiel die Malerei der Präraffaeliten nahegebracht. Er ist in den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 gezogen und erzählte ausführlich von den Kämpfen.
Vor allem aber war er in der Mark Brandenburg unterwegs und publizierte seine Erlebnisberichte, zunächst als Beiträge für die Zeitung, später gesammelt in insgesamt vier Bänden. Einer davon behandelt auch die Neumark, die heute zu Polen gehört. Die anderen erzählen von Regionen nördlich, westlich und südlich von Berlin. Kaum einer der Orte, die aufgesucht wurden, mag heute auf ein einschlägiges Fontane-Zitat verzichten. Allerlei Nachahmer waren und sind unterwegs, den Wegen des Dichters zu folgen und aufzuzeichnen, was sich seit dessen Zeiten verändert hat oder nicht.
Eine fotografische Entdeckungsreise auf den Spuren Theodor Fontanes von Andreas Kämper
Ausstellung in der Landeszentrale
Die vier Bände der »Wanderungen« werden immer wieder aufgelegt und verkauft, wobei Zweifel angebracht sind, ob jene, die sich so schwärmerisch darauf beziehen, wirklich alles gelesen haben. Denn neben einfühlsamen topografischen Schilderungen, neben spannenden Biografien und allerlei historischen Delikatessen stehen da auch eine Menge weitschweifiger Aufzählungen drin, von Bildern und Sammlungen, die eher mühsam zu lesen sind. Besonders aussagekräftig und aktuell sind sie auch nicht.
Der Popularität des Dichters tut das keinen Abbruch. Die Brandenburger verehren ihn. Fast jede Ortschaft im Bundesland gebietet über seine Fontane-Straße. Es gibt unzählige Fontane-Denkmäler, sie zeigen ihn mal sitzend, mal stehend, mal als Büste und mal als Relief. Eine sonntägliche Sendung der regionalen Rundfunkanstalt rbb, die eine halbe Stunde märkische Geschichte zeigt, heißt »Theodor« und verwendet damit des Dichters Vornamen.
Neuruppin, die Geburtsstadt, hat eine Fontane-Apotheke. Einst gehörte sie dem Vater des Dichters, auch er selber erlernte den pharmazeutischen Beruf, den er auch noch ausübte, als er schon nach Berlin gezogen war. Neuruppin hat außerdem ein Fontane-Seehotel, eine Fontane-Therme, ein Fontane-Museum, eine Fontane-Schule, eine Fontane-Buchhandlung sowie eine Fontane-Bibliothek. Man würde den Namen nicht so inflationär verwenden, wenn man sich nicht Zuspruch und Umsatzförderung davon verspräche.
Den anderen Berühmtheiten der Stadt, zum Beispiel des gleichfalls hier geborenen klassizistischen Architekten Karl Friedrich Schinkel und den einst hier hergestellten hochberühmten Bilderbögen, wird nicht annähernd so oft gedacht.
Theodor Fontane ist so was wie der brandenburgische Nationaldichter. Er ist dies völlig unbestritten, aber es gilt noch nicht sehr lange. 1910, zwölf Jahre nach Fontanes Ableben, hat sich Thomas Mann lobend über ihn geäußert, was damals ungewöhnlich war. Thomas Manns Prosastil, um auch dies noch zu erwähnen, ist an Theodor Fontane erkennbar orientiert. Die Erkenntnis, dass es sich bei dem Apothekersohn aus Neuruppin um einen weltliterarischen Schriftsteller handelt, ist also vergleichsweise jung. Anteil daran hatte, außer ein paar unverdrossenen Literaturwissenschaftlern, der Schriftsteller Kurt Tucholsky, der ein Bewunderer Fontanes war.
Er bezog sich unter anderem auf die Theaterrezensionen des Dichters. Als Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, damals Berlins führendem Tageblatt, hat Fontane einiges für die Förderung des naturalistischen Dramas getan, besonders für die Stücke des (zeitweiligen Märkers) Gerhart Hauptmann. Der stand damals dem Sozialismus nahe, was Fontane erkannte und akzeptierte. Das ist ungewöhnlich insofern, als er in seinen Anfängen ein bedingungsloser Anhänger der ostelbischen Aristokratie war. Dies ist er bis an sein Lebensende geblieben, doch wandelte sich seine Haltung von der reinen Verteidigung der Aristokratie zu linksliberalen Vorbehalten ihr gegenüber.
Letzteres prägt auch die Ribbeck-Ballade: Des Sterbenden »Misstraun gegen den eigenen Sohn«, weswegen er Birnensamen mit ins Grab nimmt, zeigt auch an, wie es um künftige Generationen des Preußenadels bestellt war.
Widersprüchlichkeit machte ihn akzeptabel für die unterschiedlichsten Leser
Fünf Jahre nach Niederschrift der Ballade mokiert sich Fontane, in einem Gelegenheitsgedicht zu seinem 75. Geburtstag, das adlige Personal der »Wanderungen« habe ihn vergessen: die Bredows, Groebens und Krachts, die Thümens, die Pfuels und die Ribbecks eben auch. Stattdessen: »Meyers kommen in Bataillonen«, dazu »Abram, Isack, Israel«.
Es geht um die Juden. Irgendwie mochte er sie nicht. Dafür gibt es Belege, private wie literarische, die jüdischen Figuren in seinem Altersroman »Der Stechlin« kommen einer antisemitischen Karikatur nahe. Dabei hatte er viele jüdische Bekannte, Freunde und Förderer, er schätzte die Juden und schätzte sie nicht. Solche Widersprüchlichkeit, wie sie sich auch bei anderen bedeutenden Künstlern findet, hat nicht nur sein poetisches Werk geprägt. Sie machte ihn auch akzeptabel für die unterschiedlichsten Leser.
Die Nationalsozialisten haben ihn gelesen und gelobt, ebenso die DDR-Kommunisten. Das liberale Bürgertum liest und liebt ihn ohnehin. Es liebt vor allem seine Romane: Bücher, die, wenn nicht in Berlin, dann in der Mark Brandenburg spielen. Das vielleicht populärste davon, »Effi Briest«, gehört zu den großen Romanen zum Thema Ehebruch, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Es steht ranggleich neben Gustave Flauberts »Madame Bovari« und Leo Tolstois »Anna Karenina« (und wurde ebenso oft verfilmt).
Der Eingang, der die jugendliche Heldin noch unbekümmert und glücklich zeigt, beginnt mit diesem Satz: »In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf.«
So sorgfältig, so zurückhaltend, so liebevoll verfährt Theodor Fontane fast immer, wenn er von der Mark Brandenburg erzählt.
Rolf Schneider
Aus: Das Brandenbuch. Ein Land in Stichworten. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 3. Auflage, Potsdam 2020
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