Gleichgültiges Ostdeutschland?

Den Ostdeutschen wird oft ein stärkeres Misstrauen oder sogar Gleichgültigkeit der Politik gegenüber attestiert. Die Wahlbeteiligung ist generell geringer als in den alten Bundesländern. Das stimmt, doch über bürgerschaftliches Engagement sagt das nicht viel.

"Her mit dem schönen Leben"

gesehen am Strand von Prora... 

Der Bevölkerung in den neuen Bundesländern wird oft ein stärkeres Misstrauen oder sogar Gleichgültigkeit der Politik gegenüber attestiert. Die Wahlbeteiligung ist generell geringer als in den alten Bundesländern. Regelmäßig belegen sie die letzten Plätze.

Bei der letzten Bundestagswahl 2009 gaben 67% der Brandenburgerinnen und Brandenburger ihre Stimme ab.1 Dahinter folgten Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Sachsen-Anhalt bildete mit knapp über 60% das Schlusslicht.

Das geringe politische Interesse ist zum großen Teil historisch bedingt. Durch die teils traumatischen Wendeerfahrungen mit vielfältigen sozialen Ungleichheitsentwicklungen und Ausgrenzungsprozessen, ging das Vertrauen in die politische Führung Stück für Stück verloren. In Mecklenburg-Vorpommern haben die Wähler beispielsweise nacheinander fast sämtliche Regierungsbündnisse ausprobiert: schwarz-gelb, schwarz-rot, rot-rot und jetzt rot-schwarz, ohne dass die Bevölkerung eine spürbare Verbesserung in ihren Lebensverhältnissen empfunden hätte.2

Die neuen Bundesländer kämpfen vor allem mit strukturellen Problemen. Anhaltende Abwanderung, Ab- und Aufwertung einzelner Stadtteile, die Herausbildung sozialer Problemquartiere, von Speckgürteln um die Kernstädte, die Entvölkerung ländlicher Regionen und wachsende regionale Unterschiede sind einige der aktuellen Erscheinungsformen.3 Hinzu kommt das weiterhin hohe Niveau der Arbeitslosigkeit.

Dennoch bleibt zu beachten, dass die DDR durch anhaltende Bürgerproteste weitgehend friedlich untergegangen ist. Positive Erfahrungen mit politischer Einmischung sind durchaus vorhanden, auch wenn sie seit 1990 von zunehmenden Problemen überlagert wurden. Angelehnt an die Arbeitsweisen in der Wendezeit werden auch heute in vielen ostdeutschen Kommunen Runde Tische und Foren zu Themen wie Armut, Arbeitslosigkeit, Gewaltprävention, Drogen, Toleranz etc. durchgeführt.4 Die sachorientierten Diskussionen ergänzen die repräsentativen Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung.

Auch Volksinitiativen und Volksbegehren werden genutzt. In Brandenburg laufen momentan zwei Verfahren.5 Eines zum Verbot von Nachtflügen am neuen Flughafen BBI und eines gegen die Kürzung von staatlichen Geldern für Schulen in freier Trägerschaft.

Insgesamt kam es in Brandenburg seit 1992 bisher zu 35 Volksinitiativen und acht Volksbegehren, von denen jedoch keines erfolgreich war.6 

Anfang des Jahres 2011 haben die Bündnisgrünen einen Gesetzentwurf vorgelegt, um die direkte Demokratie in Brandenburg zu erleichtern. "Wir nehmen wahr, dass es im Land eine Parteienverdrossenheit gibt, aber keine Politikverdrossenheit", sagte dazu Grünen-Fraktionschef Axel Vogel.7

Die Begrenztheit der Themen bei Bürgerbegehren und die Praxis, dass Unterschriften innerhalb von vier Monaten nur in Amtsräumen geleistet werden können, entsprechen nicht den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger eines Flächenlandes wie Brandenburg und tragen zum Scheitern der Initiativen bei. Zusätzlich sind die Quoren für Initiativen und Begehren sehr hoch. Für eine erfolgreiche Initiative müssen 20.000 Stimmen gesammelt werden, die bei Abgabe nicht älter als ein Jahr sein dürfen. Für ein erfolgreiches Bürgerbegehren müssen innerhalb von vier Monaten 80.000 Bürgerinnen und Bürger unterschreiben.

Der Landtag zeigte sich zunächst bestrebt, die Volksgesetzgebung zu reformieren und somit bürgerfreundlicher zu gestalten. Infolge des Gesetzentwurfs hatten der Ausschuss für Inneres und der Hauptausschuss des Brandenburgischen Landtags im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung zehn Sachverständige eingeladen. Sie sollten zu den Vorschlägen zur Änderung der Landesverfassung und des Volksabstimmungsgesetzes Stellung beziehen. Der Städte- und Gemeindebund Brandenburg sowie die Datenschutzbeauftragte des Landes befürworteten die freie Sammlung von Unterschriften, der einzige Punkt auf den sich alle Versammelten einigen konnten.8 

Gut zwei Wochen später legte die SPD-Fraktion ihre Positionen fest und erteilte der freien Sammlung eine klare Absage. Es kommt nun auf die Entscheidung des Koalitionspartners Die Linke an, ob Brandenburg eine bürgerfreundlichere Gesetzgebung bekommt oder nicht. Sie wird nach der Sommerpause 2011 erwartet.

Auch wenn die politischen Rahmenbestimmungen es den Brandenburgerinnen und Brandenburgern erschweren, ihr Land aktiv mitzugestalten, sind sie nicht passiv. In Brandenburg nahm das freiwillige Engagement von 1999-2009 um 5% auf 33% zu. Besonders in den jüngeren Bevölkerungsgruppen im Alter bis zu 45 Jahren ist das Engagement gestiegen.9 Ein Faktor, auf dem sich aufbauen lässt.

Viele Beispiele zeigen, dass offene Angebote von Politik und Verwaltung, gerade auf kommunaler Ebene, wahrgenommen werden. Trotzdem liegen die neuen Bundesländer in den Zahlen der Engagierten hinter den alten Bundesländern. Gründe dafür werden u.a. in den Erwerbszahlen gefunden.10 Die Erwerbslosenzahlen sind höher und unbefristete, gesicherte Arbeitsplätze seltener als in den alten Bundesländern. Das führt zu einer Verschiebung in den Prioritäten und lässt weniger Zeit für politische Aktivitäten.

Engagement ist in den neuen Bundesländern zudem stärker arbeitsmarktorientiert. Knapp die Hälfte aller Befragten gab bei den Motiven für freiwilliges Engagement an, dass sie auch einen beruflichen Nutzen erwarten, während das im Westen lediglich ein Drittel tut.11 Gleich sind dagegen die Bereiche, in denen sich die Bevölkerung am stärksten engagiert. Sport und Bewegung stehen dabei an erster Stelle, dicht gefolgt von den Bereichen Schule und Kindergarten sowie Freizeit und Geselligkeit.12

Die neuen Bundesländer besitzen zusätzlich einen Vorteil, der sich auf die Bürgerbeteiligung auswirkt. Verwaltungen, Parteien und Verbände sind weniger geschlossen als in den alten Bundesländern, wo sie häufig einer festen Lager- und Milieulogik unterliegen.13 Auch die Milieubindungen sind, historisch bedingt, weitaus geringer. Da traditionelle Loyalitäten und Beteiligungsmotive weniger Einfluss ausüben, entsteht die Chance, unbelastet neue moderne Formen des politischen und gesellschaftlichen Engagements zu erproben. Das zeigt sich konkret an einer erstaunlichen lokalen Vielfalt von "bunten" Projekten und Initiativen. Höchst kreativ werden dabei alle möglichen Formen der Bürgerbeteiligung unter Einbeziehung der unterschiedlichsten Träger kombiniert. Die Landeshauptstadt bietet dafür mehrere Beispiele.

Der Bürgerhaushalt in Potsdam findet seit fünf Jahren statt. Bisher wurden über 1500 Bürgervorschläge eingereicht, diskutiert und bewertet. Bei Stadtteilveranstaltungen beteiligten sich, schriftlich sowie im Internet, fast 15.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der Stadtverordnetenversammlung wurden aus den Bürgerhaushalten von 2008 bis 2010 insgesamt 91 Vorschläge zur Beratung übergeben. Ein Umsetzungsauftrag wurde daraufhin für 40 von ihnen erteilt. 34 weitere Ideen sollen weiterführend geprüft werden. Ein Großteil der Vorschläge ist bereits realisiert, befindet sich in der Umsetzung oder in der Planung.14

Im Rahmen des Bürgerhaushalts 2012 wird erstmals der Gesamthaushalt der Stadt zur Diskussion gestellt, so dass zu allen steuerbaren städtischen Aufgaben Vorschläge eingebracht werden können. Insgesamt konnten zu über 26 interessanten Themenbereichen, darunter Gemeindesteuern, Gesundheit, Klimaschutz, öffentlicher Nahverkehr, Straßenbau sowie Schule und Kindertagesbetreuung, Vorschläge eingereicht werden.15 

Zum Bürgerhaushalt 2012 haben mehr als 350 Potsdamerinnen und Potsdamer insgesamt 617 Empfehlungen und Anregungen beigesteuert. 41 Vorschläge haben es in die nächste Runde geschafft und stehen ab dem 22. August zur öffentlichen Abstimmung bereit. Bis Ende Oktober kann über die Liste der 20 wichtigsten Vorschläge abgestimmt werden, die Anfang November der Stadtverordnetenversammlung zur Entscheidung übergeben werden soll.16 Auch in anderen Brandenburger Städten und Gemeinden werden Bürgerhaushalte diskutiert oder sind bereits Teil der Kommunalverwaltung, so in Brandenburg a.d.H, Jüterbog, Cottbus, Eisenhüttenstadt, Eberswalde und vielen mehr.

Potsdamer Toleranzedikt

Mit dem Potsdamer Toleranzedikt hat die Bürgerschaft zusätzlich ein eigenes Zeichen für mehr Aufgeschlossenheit und gemeinschaftlichem Miteinander geschaffen. Überall in der Stadt, an öffentlichen Plätzen, in Schulen und in Ämtern wurden Diskussionstafeln aufgestellt, auf denen die Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Vorstellungen von Toleranz und ihre Vorschläge für eine tolerantere Stadt aufschreiben konnten. Zusätzlich konnten Anregungen per Postkarten oder in Internetforen gegeben werden.

Entstanden ist eine bunte Mischung aus Ideen, die auch der Stadtverwaltung Handlungsoptionen aufzeigt. Vor allem zeigt sich aber die Bevölkerung verantwortungsbewusst und konkretisiert zentrale Aufgaben für die Entwicklung einer selbstbewussten, weltoffenen und toleranten Bürgerschaft. Auf den Internetseiten wird über viele politische und kulturelle Angebote informiert.17

Insgesamt ergibt sich in den neuen Bundesländern ein buntes Bild der Bürgerbeteiligung, die am stärksten in den Städten ausgeprägt ist, sich aber zunehmend auch auf ländliche Kommunen ausweitet. Auch in Leipzig, Dresden, Greifswald, Magdeburg und vielen anderen ostdeutschen  Städten und Gemeinden finden sich lokale Initiativen und Projekte.

Je höher sich die Ebene der Beteiligung erstreckt, desto stärker sinkt jedoch das Interesse an ihr, da Erfolge von solchen Großprojekten meist ausbleiben. Hier ist die Politik gefragt, den Spielraum für mehr Beteiligung deutlich zu erweitern, um politisches und gesellschaftliches Engagement attraktiv zu gestalten.
 

Linktipps

  • Politisches Engagement in Ost und West ist unterschiedlich

    Das Interesse an Politik ist in Ost- und Westdeutschland auf gleich hohem Niveau. Ostdeutsche artikulieren ihre politischen Interessen jedoch eher in Bürgerbewegungen, auf Plattformen oder auf der Straße. Institutionen, die politische Ansichten bündeln, wie Parteien, Gewerkschaften, Verbände oder Kirchen sind im Osten schwächer aufgestellt, so die Ergebnisse einer Studie.

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