DEN Islam gibt es nicht

Mit den Flüchtlingen wird sich der Anteil der Muslime in Deutschland rasch vergrößern. Sie werden Deutschland prägen, genauso wie Deutschland sie prägen wird. Dabei zeigt das Beispiel syrischer Geflüchteter, dass es DEN Islam nicht gibt.

Symbol des Islam und des Christentums. Bild: pixabay CCO
Über vier Millionen Menschen islamischen Glaubens leben in Deutschland. Aber kaum jemand kennt ihre Lebenswelt wirklich.

Anfang 2015 waren etwa fünf Prozent der Bevölkerung in Deutschland Muslime. Mit den Flüchtlingen wird sich dieser Anteil rasch vergrößern. Die meisten der Menschen, die kommen und bleiben dürfen, stammen aus Syrien und sind Muslime. Sie werden Deutschland prägen, genauso wie Deutschland sie prägen wird. Was für einen Islam haben sie im Gepäck?

Wie in jedem islamischen Land ist die Glaubensauslegung auch in Syrien durch den Bildungsgrad und davon beeinflusst, ob ein Muslim aus dem urbanen oder ländlichen Milieu stammt – von „den“ syrischen Muslimen an sich kann folglich nicht die Rede sein. Doch es gibt gewisse Tendenzen. Wie die Syrien-Expertin Kristin Helberg in ihrem Buch «Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land» (2012) dargelegt hat, ist der sunnitische Islam der überwiegenden syrischen Bevölkerung eher konservativ geprägt. In dem Sinn, dass die Gläubigen den klassischen Lehren der Religion folgen und den Islam nicht als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sehen.

Bis zum Bürgerkrieg war Toleranz ein wesentliches Merkmal

Bis der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach, war die Toleranz gegenüber anderen Religionen ein wesentliches Merkmal des dort gelebten Islams. Über viele Jahrhunderte lebten Muslime und Christen friedlich miteinander. Am Freitag, dem islamischen Sonntag, gingen die Muslime in christliche Geschäfte und sonntags die Christen in muslimische. In keinem anderen islamischen Land war es für Christen so einfach, Kirchen zu bauen und ihre Rechte als Minderheit auszuüben.

Anders als in Ägypten oder Saudi-Arabien wurde in Syrien die Religion nie als Waffe von Unabhängigkeitskämpfern oder Staatsgründern missbraucht. Der Islam galt den Menschen immer als eine - wenn auch wichtige – Privatangelegenheit. Das autoritäre syrische Staatswesen machte eine säkulare Grundeinstellung selbstverständlich; staatliche Angelegenheiten wurden nicht mit religiösen vermischt.

Die saudische Vorstellung, der Koran sei die Verfassung des Staates, ist für einen durchschnittlichen syrischen Muslim undenkbar. Für ihn bleibt der Koran ein religiöses Buch.

Das ist es, was noch fehlt, ... in weiten Teilen ist das noch nicht vorstellbar, dass Deutsch-Sein und Muslimisch-Sein sich nicht ausschließen muss, sondern dass das auch miteinander gehen kann." Karen Krüger (2.08.2016)

Die allermeisten Syrer kennen dieses Buch recht gut. Syrer gelten als sehr belesen und gefestigt in ihrer Religion. Das macht sie weniger anfällig für radikale Strömungen. Ganz abgesehen davon haben sie den radikalen Islamismus schon in Form verschiedener radikalislamistischer Kämpfertruppen kennengelernt und sind vor ihm geflüchtet. Nicht jeder syrische Flüchtling hat den Schrecken des IS unmittelbar erlebt. Aber der Fanatismus zeigt sich auch in dem Versuch, das gesamte Leben der Menschen zu kontrollieren. Eine Bewohnerin von Aleppo mag es nicht, wenn ihr jemand die Vollverschleierung befiehlt – die hat in Syrien keine Tradition, wenn überhaupt, dann sah man dort vor dem Krieg höchstens Kopftücher. Und ihrem Sohn wird es nicht gefallen, wenn man ihm verbietet, Musik zu hören, weil das unislamisch sei.

Neu sehen lernen

Die Syrer stehen in einer urbanen Tradition, wie sie kaum ein anderes Land der arabischen Welt hervorgebracht hat. Trotzdem ist ihnen die Idee fremd, dass moralische Werte und soziales Verhalten statt auf Gott auch auf Humanismus beruhen können und dass es Menschen gibt, die ganz bewusst auf ein explizit gestaltetes Wertegefüge verzichten. Das werden die syrischen Flüchtlinge in Deutschland lernen müssen.

Sie werden sich leichter integrieren, wenn die deutsche Gesellschaft ihnen verdeutlicht, dass deutsch und muslimisch keinen Widerspruch darstellt und dass die Ausübung ihres Glaubens in Deutschland ohne weiteres möglich ist. Mit den Syrern wird sich die muslimische Vielfalt noch verstärken. Für den Islam in Deutschland ist das eine Chance, da dadurch die Dominanz der türkisch geprägten Verbände auf lange Sicht aufweichen könnte. Ganz sicher werden die Syrer nicht Türkisch lernen, sondern Deutsch. Gut möglich, dass es zur Gründung syrischer Moscheevereine kommt.

Vielleicht wird die deutsche Gesellschaft durch die syrischen Muslime auch neu sehen lernen. In dem Sinn, dass gewisse Zerrbilder hinsichtlich des Islams ad acta gelegt werden können: Zerrbilder, entstanden in einer Zeit, als die Deutschen durch das Anwerbeabkommen erstmals mit dem Islam in Berührung kamen.

Die syrischen Frauen gelten als fromm und selbstbewusst. Schon jetzt zeigen viele syrische Eltern einen unbändigen Willen, dass aus ihren Kindern etwas wird. Steve Jobs war das Kind eines syrischen Einwanderers in die Vereinigten Staaten – vielleicht gründet eines der syrischen Kinder von Rosenheim in zehn Jahren das deutsche Apple?
 

Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt-Verlages. Auszug aus: Karen Krüger, Eine Reise durch das islamische Deutschland, Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.

Lesung und Diskussion mit Karen Krüger

Islamisches Leben in Deutschland und Brandenburg: Es gibt viel zu entdecken

22. März 2017, 18 Uhr, Landeszentrale

Linktipps

  • „In Syrien ist es einfacher, ein Moslem zu sein“

    Der 23-jährige Sadam Alhasan kam etwa vor eineinhalb Jahren aus Syrien nach Deutschland. Heute lebt er in Ludwigsfelde. In der MAZ berichtet er von seinem Leben als Muslim in Deutschland. Das ist manchmal gar nicht so leicht. (17.05.16)

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    Die deutsche Mehrheitsgesellschaft lasse nicht zu, dass "Deutsch-Sein und Muslimisch-Sein" zusammenpassen, sagte die Publizistin Karen Krüger im Deutschlandfunk. (2.08.16)

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