Leitvorstellungen und Motive

Vorstellungen eines „Bundesstaates“ oder eines „Staatenbundes“ bestimmten von Beginn an die Diskussion um die Europäische Union. Daneben gibt es auch andere Modelle wie das Konzept der „Differenzierten Integration“ oder das Modell eines „Europa der Regionen“.

Europa am Tisch

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Die Geschichte der europäischen Einigung ist geprägt von einer Vielzahl von unterschiedlichen Vorstellungen über die Genese der Europäischen Union. Bereits Winston Churchill schlug in seiner bekannten Rede vom 19. September 1946 in Zürich eine enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten vor, die nur in genau definierten Teilbereichen ihre Zuständigkeiten übertragen und durch ein gemeinsames europäisches Gericht eine friedliche Konfliktlösung ermöglichen sollten. In der Diskussion über ein geeintes Europa waren von Beginn an zwei grundlegende Konzepte vorherrschend:

  • Das eine bevorzugte eine überstaatliche europäische Ordnung mit starken gemeinsamen Institutionen und einem Vorrang des gemeinsamen Rechts.
     
  • Das andere setzte sich hingegen stärker für eine enge europäische Zusammenarbeit ein, die auf der nationalen Souveränität basieren sollte.

Die Vorstellungen eines „Bundesstaates“ oder eines „Staatenbundes“ dominierten von Beginn an die Diskussion um die Genese der Europäischen Union. Daneben gibt es auch andere Modelle wie etwa das Konzept der „Differenzierten Integration“, das eine verstärkte Zusammenarbeit einzelner europäischer Staaten in bestimmten Bereichen favorisiert oder das Modell eines „Europa der Regionen“.

Bundesstaat

Das Modell eines europäischen Bundesstaates zeichnet sich durch eine klare föderale Kompetenzabgrenzung zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU aus. Die Nationalstaaten geben Teile ihrer Souveränität an die Union ab. Die supranationale Gemeinschaft verfügt somit über quasistaatliche Kompetenzen, zahlreiche Politikfelder werden in ihren Kompetenzbereich übertragen.

Voraussetzung ist eine demokratisch legitimierte Regierung sowohl auf nationaler wie auch auf EU-Ebene. Das bedeutet, dass die Position des Europäischen Parlaments gestärkt wird. Auch im Entscheidungsverfahren des Europäischen Rates bewirkt das Modell eines europäischen Bundesstaates Veränderungen: Entscheidungen müssen nun nicht mehr im Konsens getroffen werden, sondern können nach dem Mehrheitsprinzip beschlossen werden.

Die Union wird in ihrer Gesamtheit gestärkt. Grundlage dieses Modells ist eine gemeinsame Verfassung und die Anerkennung und Verabschiedung gemeinsamer Grundwerte. In vielen Politikbereichen wird bereits nach dem Konzept eines europäischen Bundesstaates gehandelt: so etwa im juristischen Bereich, wo Europäisches Recht vor nationalem Recht steht oder auch bei Entscheidungen bezüglich des Binnenmarktes, die mittels des Mehrheitsprinzips getroffen werden.

Die Schaffung einer gemeinsamen Verfassung als Grundlage eines europäischen Bundesstaates ist mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages nicht realisiert worden.

In der Geschichte der Europäischen Union wird das Konzept eines europäischen Bundesstaates zumeist von Staaten mit föderalen Systemen und den Gründungsnationen der Europäischen Union bevorzugt. 

Staatenbund

Das Modell eines europäischen Staatenbundes basiert auf starken und souveränen Nationalstaaten, die mit einem Letztentscheidungsrecht die gemeinsame Arbeit der Regierungen im Rahmen der Europäischen Union bestimmen und die Handlungszuständigkeiten für sich in Anspruch nehmen. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten haben die Entscheidungsgewalt inne.

Das Europäische Parlament spielt im Modell des europäischen Staatenbundes nur eine untergeordnete Rolle, während die nationalen Parlamente keine Beschneidung ihrer Zuständigkeitsbereiche und Rechte erfahren. Nur wenige Politikbereiche werden nach diesem Modell auf die transnationale Ebene übertragen, staatsrechtliche Kompetenzen sollen weiterhin klar bei den einzelnen Nationalstaaten liegen. Zudem müssen Entscheidungen im gemeinsamen Konsens getroffen werden.

Folge des Konzepts eines europäischen Staatenbundes ist die starke Stellung der einzelnen Mitgliedsstaaten, die ihre nationalstaatlichen Interessen wahrnehmen und vertreten. Doch bereits mit der Gründung der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 waren das Modell eines europäischen Bundesstaates und das eines Staatenbundes gleichermaßen vertreten. Heute ist das Modell eines europäischen Bundesstaates schon in vielen Bereichen zur Wirklichkeit geworden: im Bereich des europäischen Binnenmarktes etwa werden Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip gefällt.

Als prominente Vertreter dieses Modells sind der französische Staatspräsident (1959-1969) Charles de Gaulle und die britische Premierministerin (1979-1990) Margaret Thatcher bekannt. Heute findet das Konzept eines europäischen Staatenbundes Zustimmung vor allem in den skandinavischen Ländern und Großbritannien. 

Differenzierte Integration

Die Grundidee klingt plausibel: Jedes Mitgliedsland der EU macht da mit, wo es möchte, und hält sich ansonsten raus. Der positive Nebeneffekt - Vetos werden auf diese Weise vermieden. Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Gemeinschaft durch Gruppierungen geteilt und geschwächt wird.

In diesem Modell schließen sich einzelne Mitgliedsstaaten oder Staatengruppen in jeweils unterschiedlichen Politikfeldern zusammen, um so in verschiedenen Formationen zusammen zu arbeiten. Das Modell der „Differenzierten Integration“ besteht neben den bisher vorhandenen politischen Strukturen der EU. Zwei Konzeptionen sind innerhalb des Modells vorherrschend:

  • „Europa der zwei Geschwindigkeiten“: die Mitgliedsstaaten einigen sich verbindlich auf Ziele und setzen diese in einem jeweils unterschiedlichen Tempo um.
     
  • „Europa à la carte“ oder Konzept der „Variablen Geometrie“: Einzelne Mitgliedsstaaten finden sich in immer neuen Formationen zusammen, um in bestimmten Politikbereichen zu Entscheidungen zu gelangen.

Die Europäische Union

Etappen der Einigung

Seit der Gründung der Europäischen Union wird das Prinzip der „Differenzierten Integration“ angewandt. Das Übereinkommen von Schengen wurde so etwa 1985 von fünf europäischen Staaten vereinbart. Heute ist es in 26 Ländern gültig, wobei für einzelne Länder wie Bulgarien, Rumänien oder Kroatien auch Sonderregelungen gelten.

Die verstärkte bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich entspricht ebenso dem Konzept der „Differenzierten Integration“ wie auch die stufenweise Einführung des Euro als gemeinsame Währung in bislang 19 Staaten der Union. Primärrechtlich verankert wurde die differenzierte Integration erstmalig im Vertrag von Amsterdam und in den Folgeverträgen von Nizza bis zu Lissabon aufgegriffen und modifiziert.

Mit der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" soll das Konzept im Rahmen des Lissabon-Vertrags auch auf den Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik angewandt werden.

Was ist Europa?

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Europa der Regionen

Das Modell eines „Europa der Regionen“ vertritt die Idee von starken Regionen, die größere Mitspracherechte in der Europäischen Union erhalten sollen. Als „dritte Ebene“ sollen sie an Entscheidungsfindungen beteiligt sein. Das Modell basiert auf dem Grundsatz der Bürgernähe. Zudem soll das föderalistische Konzept eine effizientere regionale Verwaltung, die Stärkung der Infrastrukturen und der Wettbewerbsfähigkeiten der Regionen gewährleisten.

Seit dem Maastrichter Vertrag 1992 ist mit dem Ausschuss der Regionen (AdR) ein beratendes Organ im politischen Gefüge der EU institutionalisiert, das den Ministerrat, das Parlament und die Europäische Kommission in Fragen zu berät, die die Länder, Regionen, kommunalen und lokalen Gebietskörperschaften etc. betreffen. Dem Grundsatz der Subsidiarität – das Prinzip, wonach Probleme auf der niedrigsten politischen Ebene gelöst werden und öffentliche Aufgaben bürgernah geregelt werden sollen – wird mit dem Ausschuss der Regionen entsprochen.

Im Modell eines „Europa der Regionen“ stehen die Regionen Europas noch weiter im Vordergrund. Jedoch ist eine präzise, allgemein akzeptierte Definition von „Region“ schwierig zu finden, da sich die Größe und Kompetenzausstattung der einzelnen europäischen Regionen stark unterscheiden. So haben die Bundesländer im föderalen Deutschland mit einer eigenen Regierung und Gesetzgebungsbefugnissen Staatscharakter, während im zentralistisch ausgerichteten Frankreich keine vergleichbaren Strukturen bestehen.

Fürsprecher eines „Europa der Regionen“ sind zumeist die Vertreter der Regionalebenen und häufig auch Staaten mit föderaler Struktur.

Motive der europäischen Einigung

Der Prozess der europäischen Einigung war stets geprägt von unterschiedlichen Motivationen und Zielperspektiven. Dominierte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Idee von einem friedlichen Europa, so waren auch stets – wie etwa in der Einführung der gemeinsamen Währung – wirtschaftliche Motive für ein politisches Zusammenwachsen Europas überaus stark. Welcher Beweggrund entscheidend in den jeweiligen Etappen der europäischen Einigung war, ist oft nicht eindeutig zu sagen. In der Regel wirken mehrere Motive zusammen.

Das Motiv der Friedenssicherung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewann der Gedanke eines europäischen Zusammenschlusses immer größeren Zuspruch: ein geeintes Europa galt vielen als Möglichkeit, die kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit zu überwinden, die oftmals von starken Nationalismen geprägt waren. Winston Churchills bekannte Rede vom 19. September 1946 in Zürich, in der er die Idee eines staatenübergreifenden Europas vertrat, zeugt von der Bedeutung des friedenssichernden Motivs in der Geschichte der Europäischen Union. 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis für ihre Verdienste um die Sicherung des Friedens. Wie fragil die Situation in Europa dennoch ist, haben die Kriege im ehemaligen Jugoslawien ebenso wie die militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine eindrücklich vor Augen geführt.

Wertegemeinschaft Europa

Fest verankert im Vertrag von Amsterdam (1997) wurden die grundlegenden Merkmale der gemeinsamen Werte. Im Vertrag von Nizza (2000) wurde feierlich die „Charta der Grundrechte“ proklamiert, im Rahmen der Diskussionen um eine Europäische Verfassung und das vorläufige Scheitern dieses Reformvertrags trat diese Charta der Grund- und Menschenrechte der Europäischen Union jedoch erst mit der Verabschiedung des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 in Kraft. Zudem enthält der Vertrag von Lissabon in Artikel 2 eine klare Auflistung von Zielen und Werten der Union, die für das gesamte Handeln der EU von Bedeutung sind. Dort heißt es:

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Der nachfolgende Artikel 3 des Vertrages von Lissabon legt Ziele (Frieden, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, kulturelle Vielfalt, weltweite Bekämpfung von Armut, usw.) fest. Durch diese sehr klare Formulierung, der sich alle der Europäischen Union angehörenden Nationalstaaten und deren Regierungen verpflichten, wird die hohe Bedeutung, die gemeinsamen Werten in der Gemeinschaft zugemessen wird, sichtbar.

Wirtschaftliche Motive

Wirtschaftliche Motive bildeten von Anfang an einen bedeutenden Faktor im europäischen Einigungsprozess. Die heutige Europäische Union hat sich unter anderem aus der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entwickelt.

Heute soll der gemeinsame Binnenmarkt für wirtschaftliche Vorteile sorgen. Mit der Einführung der gemeinsamen Währung – dem Euro – in bislang 19 Staaten der EU entfielen auch Umtauschkosten und Wechselkursrisiken zwischen den Euro-Staaten. Seit Beginn der europäischen Integration hat sich der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten mehr als verdreißigfacht.

Die Wirtschaftsgemeinschaft erlaubt es den exportorientierten Mitgliedsstaaten, ihre Handelsbeziehungen innerhalb des Euro-Raumes zu verbessern. Da jedoch in anderen Bereichen (Lohn- und Steuerpolitik) noch keine einheitlichen Regelungen bestehen, sind in den letzten Jahren verstärkt Standortkonkurrenz und Lohndumping-Entwicklungen zu beobachten.

Zudem offenbart die seit 2008 anhaltende weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise Unwägbarkeiten innerhalb einer vornehmlich auf Geldpolitik- und Wirtschaftsraumanpassung ausgerichtete Europäische Union. 

Motive der Außen- und Sicherheitspolitik

Schon 1970 beschlossen die Staaten der Europäischen Gemeinschaft die Schaffung einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit, um besser auf außenpolitische Anforderungen reagieren zu können. Grundlage der Idee einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist der Gedanke, dass der Europäischen Union in ihrer Gesamtheit eine bedeutendere Rolle zukommt als den jeweiligen Einzelstaaten.

Seit dem Vertrag von Maastricht 1992 gibt es die sogenannte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), in welcher in einer zwischenstaatlichen Kooperation die Mitgliedsstaaten untereinander zwar ihre außenpolitischen Vorstellungen und Interessen formulieren und austauschen können, dann aber doch weitestgehend eigenständig handeln (z.B. Unterstützung der USA im Irakkrieg nur durch einige EU-Staaten).

Der Vertrag von Lissabon sieht eine Stärkung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik vor, wobei die zwischenstaatliche Entscheidungsstruktur beibehalten wird und somit die Einzelstaaten weiterhin eine hohe Möglichkeit zur „Eigendiplomatie“ besitzen. Durch die Schaffung des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (EU-Außenminister) wird die Entwicklung hin zu einem stärker ganzheitlich auftretenden Akteur auf der internationalen Bühne der Diplomatie und Sicherheitspolitik greifbarer.

Zur praktischen Umsetzung der Interessen und Ziele der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch um als starke Stimme auf dem internationalen Parkett wahrgenommen zu werden, steht der Hohen Vertretung der EU der sogenannte Europäische Auswärtige Dienst (EAD) zur Verfügung. Dieser rekrutiert sich aus den nationalen diplomatischen Diensten und Beamten der Botschaften. Der EAD soll bis Ende 2010 seinen Dienst aufnehmen und vertritt dann mit dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik eine einheitliche Linie in der EU-Außenpolitik in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen.

Motiv der grenzüberschreitenden Problemlösung

In vielen Bereichen ist ein koordiniertes gemeinsames Handeln der EU-Mitgliedsstaaten notwendig geworden. Angesichts der wirtschaftlichen, kommunikativen und kulturellen Verflechtungen als Folge der Globalisierung sind Problemlösungen wie etwa im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes sowie der Finanz- und Wirtschaftskrise von den einzelnen Nationalstaaten nicht zu bewältigen.

Ein Zusammenschluss zur gemeinsamen Problemlösung lässt sich somit ebenfalls als ein Motiv der europäischen Einigung benennen. Gleichzeitig führt dies zu Abhängigkeiten und Risikofolgen, die mitunter nur hinreichend analysiert oder reflektiert wurden.
 

Landeszentrale (zuletzt bearbeitet im Februar 2015)

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