Die Mär vom Sozialtourismus

Zuwanderung gehört zu den am meisten diskutierten Themen in Deutschland. Die Rede vom „Sozialtourismus“ ist dabei politikfähig geworden. Matthias Jobelius hat die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren nach Deutschland untersucht.

Schilder "Asyl" und "EU"
Bild: Trüffelpix | fotolia.de

Herr Jobelius, Sie wohnen und arbeiten in Bukarest. Warum wollen Rumänen ihr Land verlassen und nach Deutschland kommen?

Der wichtigsten Gründe für die Abwanderung sind die niedrigen Einkommen in Rumänien, verbunden mit den starken Wohlstandsgefällen innerhalb der Europäischen Union. Eine Ärztin kommt in Rumänien auf einen Nettoverdienst von 400 oder 500 Euro im Monat, ein Kassierer im Supermarkt auf 200 Euro. Ein Grundschullehrer geht mit ungefähr 250 oder 300 Euro netto im Monat nach Hause. Auf Grund der niedrigen Löhne hat Rumänien zusammen mit Bulgarien das höchste Armutsrisiko in der EU.

 

Matthias Jobelius, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bukarest

Matthias Jobelius, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bukarest, hat die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren nach Deutschland untersucht und warnt vor asozialem Verhalten in der Zuwanderungs-Debatte.

Es sind diese schlechten Ausgangsbedingungen, die viele Rumänen dazu bewegen, ins Ausland zu gehen, um sich dort bessere Einkommens- und Beschäftigungsperspektiven zu eröffnen. Diese Abwanderung ist ein Problem für das Land, denn es gehen auch sehr viele junge und gut ausgebildete Arbeitskräfte ins Ausland.  Daher läuft die Diskussion in Rumänien - anders als in Deutschland - auch nicht unter dem Schlagwort „Armutsmigration“, sondern unter „Brain Drain.“

Beklagt wird also die Abwanderung der besten Köpfe. Und natürlich gehen diese Menschen dorthin, wo sie Arbeit und bessere Einkommen erwarten können, und nicht etwa dorthin, wo es ausgeprägte soziale Sicherungssysteme gibt.

Seit 1. Januar 2014 gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU auch für Rumänen und Bulgaren. Nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vom August 2014 hat sich die Zahl der Hartz-IV-Bezieher aus Rumänien und Bulgarien im Vergleich zum April 2013 um 65,9 Prozent erhöht. Ist das nicht der von vielen befürchtete so genannte Sozialtourismus, das heißt Einwanderung in unser Sozialsystem?

Diese Zahl ist nur aussagekräftig, wenn wir sie im Zusammenhang mit der Entwicklung der Beschäftigung sehen. Denn die Bundesagentur für Arbeit weist ebenfalls darauf hin, dass die Zahl der Beschäftigten aus Bulgarien und Rumänien in Deutschland innerhalb eines Jahres, zwischen Dezember 2013 und Dezember 2014, um 78 Prozent zunahm. Besonders stark wuchs dabei die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, also jene Form von Beschäftigung, die in Deutschland die sozialen Sicherungssysteme stärkt. 84 Prozent der beschäftigten Bulgaren und Rumänen in Deutschland sind sozialversicherungspflichtig tätig.

Beim Leistungsbezug nach Sozialgesetzbuch II, wozu auch Hartz IV gehört, müssen wir außerdem zwischen der großen Gruppe der Rumänen und der zahlenmassig kleineren Gruppe der Bulgaren unterscheiden. Die Arbeitsmarktlage beider Gruppe geht zunehmend auseinander. Rumänen sind eine der am besten integrierten Zuwanderergruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Bei bulgarischen Staatsbürgern ist das anders, was besonders in der Diskrepanz beim SGB-II Leistungsbezug deutlich wird.

Ungefähr 10 Prozent der Rumänen in Deutschland beziehen SGB-II Leistungen. Das ist eine niedrigere Quote als beispielsweise unter südeuropäischen oder osteuropäischen EU-Bürgern in Deutschland. Bei den Bulgaren liegt die Quote aber bei ca. 24 Prozent und damit über dem Durchschnitt der in Deutschland lebenden Ausländer. Es ist wichtig, die auseinanderlaufende Arbeitsmarktlage von Rumänen und Bulgaren in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen, denn hier zeigt sich, dass gezielte Maßnahmen zur Integration bulgarischer Arbeitnehmer ratsam erscheinen, um diesem Trend entgegenzuwirken. 

Woher kommt die Vorstellung, Zuwanderung sei Sozialtourismus?

Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit in Deutschland diese Vorstellung nicht teilt. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass die meisten Deutschen aufgeschlossen gegenüber Zuwanderern sind und sich ein weltoffenes Land wünschen. Auch bei meinen Vorträgen und Gesprächen zu diesem  Thema in Brandenburg und in anderen Bundesländern hatte ich nie den Eindruck, dass Zuwanderung auf ein Schlagwort wie „Sozialtourismus“ verengt wird.  Aber es gibt natürlich auch einen kleineren Teil der Bevölkerung, bei dem das anders ist. Untersuchungen zeigen, dass Teile der Gesellschaft anfällig sind, bestimmte als „fremd“ oder anders empfundene Gruppen als ungleichwertig zu betrachten. Und wenn politische Parteien versuchen, bei diesen Teilen der Bevölkerung durch Parolen wie „Wir sind nicht das Weltsozialamt“ oder „Wer betrügt, der fliegt“ zu punkten, dann entstehen solche Mythen über angeblichen Sozialtourismus von Zuwanderern.

Viele Städte und Kommunen fühlen sich aber real überfordert mit der Zuwanderung. Wie passt das mit Ihren Untersuchungsergebnissen zusammen?

Von dem insgesamt guten Bild auf Bundesebene gibt es erhebliche regionale Abweichungen. Während die Arbeitslosenquote der Rumänen in Deutschland im Dezember 2014 beispielsweise bei 7.9 Prozent lag, sind in Berlin, Dortmund und Duisburg über 20 Prozent der Rumänen arbeitslos.

Es gibt also eine starke Konzentration von Problemen auf einzelne Städte und Regionen. Diese fühlen sich dann nicht nur überfordert, sie sind es oft auch. Trotz beachtlicher Anstrengungen auf kommunaler Ebene reichen die finanziellen oder personellen Kapazitäten vor Ort oft nicht aus, um die Integration ins Bildungssystem, in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt und den Gesundheitssektor zufriedenstellend zu gewährleisten. Wir reden hier über Städte die seit Jahrzehnten zuwanderungs- und integrationserfahren sind. Wenn sie dann trotzdem die Alarmglocken läuten, muss das ernstgenommen werden. Es ist berechtigt, wenn sie mehr Unterstützung durch den Bund oder die EU einfordern. Aber genauso wichtig ist festzuhalten, dass die Situation in Städten wie Stuttgart, München oder Karlsruhe viel besser und im Bundesdurchschnitt gut ist.

Was ärgert Sie am meisten in der gegenwärtigen Zuwanderungsdebatte?

Gerade in Zeiten zunehmender sozialer Spaltungen und wachsender Ressentiments in Europa ist es wichtig, bei so sensiblen Themen wie Zuwanderung informiert zu diskutieren. Zuwanderung ist kein Thema, dass sich für politische Geländegewinne eignet. Nur ein Beispiel: Die Frage, welche Leistungen ein EU-Bürger im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in einem anderen EU-Land in Anspruch nehmen kann, und wie an dieser Stelle Europarecht mit nationalem Sozialrecht interagiert, ist ein sehr vielschichtiges juristisches Thema. Es gibt hier unterschiedliche Rechtsausfassungen und zum Teil widersprüchliche Urteile und Verfahren. Das ist komplex, und wenn sich zwei Dinge nicht vertragen, dann sind es Komplexität und Populismus. Daher sind populistische Reflexe gerade beim Thema Zuwanderung falsch und gefährlich.

Darüber hinaus sollte sich die Debatte stärker der Frage widmen, wie wir die Arbeitsrechte von Zuwanderern in Deutschland besser schützen und Ausbeutung verhindern können. Denn diese Ausbeutung findet statt. Das fängt an, wenn Rumänen und Bulgaren unter falschen Versprechungen von Leiharbeitsfirmen oder Sub-Unternehmern angeworben werden, es geht weiter über Lohnprellung, Akkordarbeit und die Unterbringung von Zuwanderern in überteuerten Schrottimmobilien in Deutschland und es endet bei Menschenhandel und Sklaverei. Wenn es im Zusammenhang mit Zuwanderung irgendwo betrügerisches und im Wortsinne a-soziales Verhalten gibt, dann ist es hier zu finden.

Landeszentrale, März 2015

 

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